Riven Rock
einer Galerie oder im Museum zustoßen mochte – es war ein Frontalzusammenprall, an dem jede Menge Fleisch und Knochen beteiligt war: eben noch schlenderte Stanley wie in Trance die Straße entlang, und im nächsten Moment war er, Arm in Arm und Brust an Brust, mit einem weiblichen Wesen verheddert, mit einer jungen Frau, deren gesamtes Repertoire von Düften nun in seiner Nase explodierte, während ihre riesigen klimpernden Augen aus den Tiefen ihres Gesichts hervorzuschießen schienen wie Bojen, die unter Wasser festgehalten und plötzlich losgelassen worden waren. »Oh, monsieur, pardon!« stieß sie hervor. »Des milliers de pardons!«
Und dann, er begriff gar nicht genau wie, überredete sie ihn im Verlauf weniger Sekunden, sämtliche Prinzipien über Bord zu werfen, die er sein Leben lang heiliggehalten hatte, und den letzten Tropfen der moralischen und religiösen Werte zu vergießen, die er seit seiner Geburt in sich aufgenommen hatte, und in ihre Wohnung mitzugehen. Es gab keine Vorstellung durch gemeinsame Bekanntschaften, keine Rezitationen der Gedichte von Elizabeth Barrett Browning oder Geplauder über die Familienwappen, keinerlei Präliminarien irgendwelcher Art. Innerhalb von einhundertachtzig Sekunden nach ihrem Zusammentreffen war Stanley mit diesem glitzernden Ding am Arm unterwegs, mit dieser kleinen, angemalten poupée , ohne zu wissen, wohin es ging, aber bereit, jeden umzubringen, der sich ihm in den Weg stellen mochte.
»Also«, sagte sie nochmals, während die roten Stoffetzen von ihr abfielen wie Blütenblätter einer Blume, um zur Gänze jenes ewige Weiß darunter freizulegen, die durch einen Graben getrennten Brüste und die Zielscheibe aus schwarzem Haar genau in der Mitte dieser bleichen Leinwand, »hast du Spaß vielleicht bei Zusehen?«, und im selben Augenblick verschwanden ihr Zeige- und Mittelfinger in ihrem Inneren, wie bei einem Zaubertrick, geradewegs im Zentrum dieser schwarzen Zielscheibe, und er sagte nein, die Stimme blieb ihm wie eine Klette in der Kehle hängen, nein, er wolle nicht zusehen, er konnte nicht zusehen, er fühlte eine Ohnmacht nahen, und das Blut toste in ihm wie dieser berühmte Wasserfall, an den alle Brautpaare Amerikas in ihren Flitterwochen fuhren, und könne sie bitte, wolle sie doch bitte... das Licht ausmachen...
Am nächsten Morgen wußte er nicht, wo er war – anfangs wußte er nicht einmal, wer er war. Er war ein Wesen der Natur, das war alles, ein pulsierender Nervenknoten aus undifferenzierten Empfindungen, und er hatte Augen, so schien es, die sich öffneten und sahen, und Ohren zum Wahrnehmen der von der Straße heraufdringenden Geräusche – und einen Unterleib, der ein vollkommen eigenes Leben zu führen schien. Er sah ein billiges, billig ausgestattetes Zimmer, leere Weinflaschen auf einer Kommode, eine Wanne auf dem Fußboden, in der verfärbte Teller eingeweicht waren, Eier in einem Korb, ein paar Äpfel, ein Band aus verblichenem Krepp, das die Umrisse der Zimmerdecke nachzog, und einen wirren Haufen von Frauenkleidern. Lange Zeit starrte er nur einfach herum und war außerhalb seines eigenen Körpers, richtiggehend außer sich, denn es gab da einen dunklen Ort in seinem Inneren, der wußte, was er getan hatte, der es auch genoß, der es aufsaugen wollte und mehr davon verlangte, er aber verweigerte diesem dunklen Ort den Weg ans Licht.
Endlich, als die Sonne die Vorhänge voll erobert hatte, das Fußende des Bettes beleuchtete und eine Serie von Parallelogrammen auf den Fußboden zog, setzte er sich auf. Er war allein. Das wußte er zwar von dem Moment an, seit er die Augen geöffnet und begonnen hatte, die Eindrücke wie ein Schwamm aufzusaugen, hatte es sich aber nicht eingestehen wollen, weil das der erste Schritt gewesen wäre, sich an den Namen Mireille Sancerre zu erinnern. Aber jetzt war er wach und erinnerte sich an den Namen – er lag auf seinen Lippen wie ein tödlicher Kuß –, und alles, was er getan hatte, brach mit anklagendem Kreischen über ihn herein. Er hatte nichts an. Er war nackt. Nackt im Bett einer fremden Frau – in Mireille Sancerres Bett. Langsam, voller Furcht und einer vehementen Abwehr, die an Hysterie grenzte, ließ er die Finger seinen Bauch hinuntertasten bis zu dem Haar zwischen seinen Beinen, verklebtes und verkrustetes Haar, gebadet von Venussäften, und dann, in einer Panik von Haß und Verleugnung, zu seinem Penis.
Sein Penis. Da war er, unversehrt und lebendig, und er fing in seiner Hand
Weitere Kostenlose Bücher