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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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und am Knie, doch er rappelte sich wieder hoch, stand auf und rannte weiter, rannte, bis er nicht mehr konnte.
    Zwei Wochen später läutete sein Bruder Harold auf der Durchreise bei Mrs. van Pele, um ihn zu besuchen. Er brachte Edith mit – sie verbrachten ihre Flitterwochen in Europa und waren nach einer Woche in London gerade auf dem Kontinent eingetroffen –, und Edith thronte wie eine Butterblume auf den Kissen von Mrs. van Peles bestem Sessel und balancierte ein Gläschen von Mrs. van Peles bestem Sherry auf den Knien, während Harold nach oben ging, um Stanley aus seiner Zimmerflucht zu holen. Unglücklicherweise war Stanley nicht holbar – jedenfalls nicht sofort. Harold fand ihn im Bett liegend vor, nicht zugedeckt, auf die Seite gewälzt, Hand- und Fußgelenke ungeschickt hinter dem Rücken gefesselt; sein Gesicht war zur Wand gekehrt, und er sah nicht auf, als sein Bruder hereinkam.
    »Stanley!« rief Harold, ein sprudelndes Geblubber von Enthusiasmus, ein zum Platzen gefülltes Gefäß, ein zweiundzwanzigjähriger Millionär, der wie berauscht war von seiner jungen Braut, der Reise und seiner unerschütterlichen Allianz mit der Familie Rockefeller. »Aufgewacht!« rief er. »Ich bin’s, Harold! Komm schon, Brüderchen, raus aus dem Bett, jetzt wird Champagner getrunken und gefeiert!«
    Aber Stanley kam nicht aus dem Bett – er hob kaum den Blick. Während Harold ihn noch verdattert ansah, zitterten Stanleys Schultern, sein sichtbares Auge verschwamm, und er fing an zu weinen, keuchte atemlos in einer Serie von rauhen, langgezogenen Schluchzern, die alle Luft aus dem Zimmer aufzusaugen schienen.
    »Was ist denn los, Stanley?« fragte Harold, dem jegliche Munterkeit schlagartig abhanden gekommen war. »Bist du etwa krank? Hast du wieder diese ägyptische Geschichte?«
    Eine lange Pause, zwischen den Schluchzern kämpfte er um die Beherrschung. »Schlimmer«, krächzte Stanley, »tausendmal schlimmer. Ich habe meine unsterbliche Seele verloren.«
    Es dauerte fast eine Stunde, ihm die Geschichte zu entwinden, denn Stanley war zögerlich und euphemistisch, die Scham brannte in seinem Blick, während er immer wieder von Buße, Sühne und ewiger Verdammnis redete. Zweimal während dieser Zeit ging Harold in den Salon hinunter, um sich bei seiner Braut zu entschuldigen, von der er sich sechsundzwanzig Jahre später wegen Ganna Walska, der ehrgeizigen Operndiva, scheiden lassen sollte, und zweimal ließ er brühendheißen Tee nach oben bringen. Stanley erzählte ihm, er suche jetzt seit zwei Wochen nach dem bedauernswerten Mädchen und habe sich sogar die Mühe gemacht, einen Privatdetektiv nach ihr fahnden zu lassen, aber vergeblich. Er war viel zu erregt gewesen über die Ungeheuerlichkeit seines Verbrechens, als daß er sich die Straße oder auch nur den Stadtbezirk gemerkt hätte, in dem er an jenem schicksalhaften Morgen erwacht war, und obwohl er seither jeden Abend die Gäßchen rings um den Gare du Nord durchstreifte, konnte er sie einfach nicht finden. Er kannte weder ihre Adresse noch ihre Geschäftsanschrift oder ihre persönlichen Daten, dennoch war er entschlossen, ihr gegenüber das einzig Richtige zu tun – entschlossen, mit einem Wort, sie zu heiraten.
    Als Harold ihn zu Ende angehört hatte in dem stickigen Zimmer, mit seiner ungeduldigen, quengeligen Frau im Untergeschoß und der Wirtin, die jedesmal die Miene einer Tragödin aufsetzte, wenn sie mit dem Tee auf Zehenspitzen durch den Raum schlich, empfand er nichts als Erleichterung. Nur Stanley konnte so hoffnungslos naiv sein, dachte er, Stanley der Heilige, Stanley der Behütete, und er wollte über diese Naivität nicht lachen – es war eine heikle Situation, das wußte er –, doch zum Schluß konnte er sich nicht beherrschen. »Das ist es also?« fragte er. »Das ist alles?« Und dann lachte er. Prustete heraus. Ließ ein Wiehern ertönen, das seine Frau unten hören konnte, während sie vor Ärger das Gesicht verzog und sich schwor, daß sie ihm das noch heimzahlen würde.
    »Stanley, Stanley, Stanley«, sagte er schließlich, das Gelächter drang noch immer in Sturzbächen aus ihm heraus, wie ein Wolkenbruch, es ließ sich einfach nicht aufhalten. »Begreifst du denn nicht? Das war eine Prostituierte, eine putain , eine Hure. Die hat dich und tausend andere Männer gehabt. Sie ist nicht reiner als der Beelzebub – und außerdem hat sie dich noch gefleddert. Was glaubst du wohl, warum sie sich verdrückt hat? Weil deine

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