Riven Rock
Krawattennadel mit den Saphiren, deine goldene Uhr und die Hundert-Franc-Scheine in deiner Brieftasche für einen hübschen sechsmonatigen Urlaub in einem höchst komfortablen Hotel von Marseille oder Saint-Tropez oder sonst irgendwo reichen.«
Stanley setzte sich auf und starrte auf das dunkle Gebräu in seiner Teetasse wie ein Selbstmörder auf einer Seinebrücke. Die Stimme erstarb ihm in der Kehle. »Ich muß sie heiraten.«
»Jetzt sei nicht absurd.«
Diese verschwollenen Augen, der gequälte Blick des Eremiten, des wahnsinnigen, leidenden Heiligen: Stanley starrte ihn an. Fixierte ihn. »Du hast leicht reden – du bist ein geachteter Mann. Du bist verheiratet. Du bist reich.«
Harold sprang auf, er verlor die Geduld und schritt mit der leeren Teetasse in der Hand auf und ab. Es wurde immer später, Edith war fuchsteufelswild, und Stanley, der trübsinnige, wirklichkeitsfremde Stanley verschwendete seine kostbare Zeit. Er versuchte es noch einmal, blieb dicht vor ihm stehen, baute sich genau vor ihm auf. »Sie ist eine Dirne, Stanley, eine Professionelle. Du schuldest ihr überhaupt nichts, weder Geld noch irgendeine Buße – an deiner Stelle würde ich mir eher wegen Krankheiten Gedanken machen, nicht übers Heiraten. Das ist verrückt. Ein Wahnsinn. Unverantwortlich!« Plötzlich brüllte er. »Man heiratet keine Hure!«
»Sie ist keine Hure.«
»Ist sie doch.«
»Ist sie nicht. Du kennst sie ja nicht einmal.«
»Warum hat sie sich dann von dir vernaschen lassen? Warum hat sie dich mit nach Hause genommen? Na? Was glaubst du wohl, warum die ihr Büro auf der Straße hat?«
Stanley schwieg daraufhin lange Zeit, und sie sahen einander voll wechselseitigem Abscheu an, wobei jeder sich fragte, wie es dazu kommen konnte, daß er mit dem anderen verwandt war. Von unten drang leise das pausenlose Geschnatter von Mrs. van Pele herauf, die mit ihren Gemeinplätzen Edith zu Tode langweilte. Schließlich, gerade als Harold dachte, er könne es nicht länger ertragen, und kurz davor war, türenknallend aus dem Zimmer zu gehen, um den kleinen Bruder und dessen heiligmäßige Skrupel zur Hölle fahren zu lassen, sprach Stanley doch noch einmal. »Was soll ich nur Mutter sagen?« fragte er.
Von da an wich Stanley nie wieder vom schmalen, geraden Pfad der Tugend. Gleich nach seinem Unterricht bei Monsieur Julien kam er heim, und wenn er nicht mit Mrs. van Pele betete oder sie mit Interpretationen von »Macedonia« und »Surely Goodness and Mercy Will Follow Me All the Days of My Life« in seiner hellen Stimme erfreute, nahm er, um seine Abende auszufüllen, Gesangsstunden bei dem namhaften Tenor Antonio Sbriglia. Er hegte keinerlei Gedanken an Kartenspiele, ob obszöne oder andere, keinen Wunsch, Cafés oder auch nur Restaurants zu besuchen, und die Ehe mit Mireille Sancerre oder sonstwem war kein Thema mehr für ihn. Unter Monsieur Juliens Anleitung polierte er sein bescheidenes Talent auf, brachte eine Reihe von Kohlestudien des Pont Neuf zu verschiedenen Tageszeiten zustande, von der grimmigen Ruhe der Morgendämmerung bis zur miasmatischen Melancholie des schwalbenzerzausten Abends, und er wurde Experte in der Reproduktion von Cézannes Äpfeln. Ernsthaft schockiert war er von den Exzessen Toulouse-Lautrecs und Edgar Degas’, und obwohl ihn Monsieur Julien zum Studium des menschlichen Körpers ermunterte, lehnte er dies hartnäckig ab. Und genau zwei Monate nachdem seine Mutter die Heimfahrt in die Vereinigten Staaten angetreten hatte, nahm auch er das Schiff nach Hause.
Während der folgenden sechs Jahre bewohnte Stanley mit seiner Mutter die Familienfestung in der Rush Street Nr. 675, gefangen in der Inszenierung seiner Kindheit wie eine Briefmarke in einem Philatelistenalbum. Er hatte jetzt natürlich seinen eigenen Raum, mit Blick auf die Gartenanlagen und einem privaten Bad, doch das Kinderzimmer, in dem er den Großteil seines Lebens verbracht hatte, blieb unverändert, und die Korridore waren ein Mischmasch erinnerter Gerüche, vom scharfen Biß der Kampfersalbe, mit der sein Vater sich Fußknöchel und Knie einreiben ließ, um die Qualen des Rheumatismus zu lindern, bis zum gespenstischen Echo von Mary Virginias französischem Parfum und dem nachwirkenden muffigen Aroma eines seit langem toten Beagle-Jagdhunds namens Digger. Er hatte einen Vollzeitjob in der Mähmaschinenfirma, deren Präsident Cyrus jr. und deren Vizepräsident Harold war, und jonglierte mit seinem Zeitplan, um seine Seminare an der
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