Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
Vom Netzwerk:
Northwestern University im Griff zu behalten, wo er Vertragsrecht studierte. Offiziell war er Rechnungsprüfer des Unternehmens, doch Nettie bereitete ihn darauf vor, auch die gesamte Rechtsabteilung zu kontrollieren, womit sie alle wichtigen Interessen der Firma McCormick in den Händen ihrer Söhne konzentrierte, nach dem Vorbild der Medici.
    Was Stanleys soziales Leben anging, so beschränkte es sich auf zwei alte Studienfreunde aus Princeton – von denen einer in New York lebte und nur selten die Reise in den Mittelwesten antrat – und auf die Gefährten, die seine Mutter unter den langweiligsten und selbstgefälligsten Sprößlingen der strengsten und frommsten Kaufmannsfamilien Chicagos für ihn aussuchte. Nach etlichen gescheiterten Versuchen entschied sie dagegen, zu ihren Abendessen und Kartenspielnachmittagen auch junge Damen einzuladen, da sie befand, ihr Stanley, dessen Gesundheit immer noch labil war, sei nicht bereit für die emotionalen Anspannungen von Brautwerbung und Eheschluß, ebensowenig wie sie bereit war, ihn freizugeben – vorerst jedenfalls. Gewiß würde er eines Tages heiraten, das stand außer Frage, aber noch war er zu jung, zu schüchtern, zu abhängig von der Anleitung seiner Mutter.
    Im Frühling seines zweiten Jahres in Chicago, als das Pariser Debakel allmählich in seiner Erinnerung verblaßte (obwohl Mireille Sancerres Gesicht vor seinem inneren Auge weiterhin zu den ungelegensten Momenten auftauchte, etwa während er sein Abschlußexamen in Vertragsrecht ablegte oder ein halbes Dutzend Oberhemden bei der verwelkten brünetten Verkäuferin im Kaufhaus Twombley bestellte), willigte er ein, seine Mutter nach Santa Barbara zu begleiten, wo sie sich um die Planung des Hauses für Mary Virginia kümmern wollten. Das Frühjahrssemester war gerade zu Ende, und mit Unterstützung seines Bruders konnte er sich sechs Wochen Urlaub von der Mähmaschinenfirma nehmen. Die Geschwister beschlossen, daß einer von ihnen der Mutter bei der schweren Aufgabe beistehen sollte, Mary Virginia ein für allemal unterzubringen, und da Anita einen kleinen Sohn zu pflegen hatte und Cyrus jr. ebenso wie Harold viel zu sehr mit der Firma befaßt war, um sich freizunehmen (man machte eine schwierige Zeit durch: da war die beinharte Konkurrenz von Unternehmen wie Deering, Warder, Bushnell und Glessner, und es tobte eine wahre Schlacht um den Zugang zu den Märkten von Indien und Französisch-Indochina), fiel die Wahl auf Stanley.
    Er hatte nichts dagegen. Überhaupt nichts. Er gab sich zwar Mühe, es zu verbergen, aber er fühlte sich nicht ganz auf der Höhe – seit einiger Zeit schon nicht. Es waren die Nerven, das und eine gewisse Intensivierung seiner zwanghaften kleinen Gewohnheiten, wie etwa das ständige Händewaschen, bis die Haut wundgescheuert war, oder das fünfzehn- bis zwanzigmalige Nachrechnen einer Addition, weil er jedesmal fürchtete, einen Fehler begangen zu haben, und sich immer wieder bestätigte, daß dies zwar nicht der Fall war, aber leicht hätte geschehen können, wäre er nicht so wachsam, oder das Vermeiden des Buchstabens R in allen Aufzeichnungen, denn das war ein böser Buchstabe, der ihm unverständliche Anschuldigungen und boshaft schnarrende Kritik in die Ohren knurrte. Er hatte zu hart gearbeitet. Hatte sich zuviel Druck aufgelastet, um sein Jurastudium mit Auszeichnung abzuschließen und zudem seine Aufgaben in der Mähmaschinenfirma so zu erfüllen, wie es seine Mutter von ihm erwartete. Sollten Cyrus und Harold ruhig dableiben – er war froh über die Abwechslung. So froh, daß er beim Packen sogar vor sich hin pfiff. Es waren die Koffer, die er aus Frankreich mitgebracht hatte, und obwohl ihm das Problem, was er mitnehmen und was er dalassen sollte, ziemlich zu schaffen machte – er legte lange Listen in immer kleinerer Schrift auf abgerissenen Zetteln an, auf Pappkartonstücken und allem, was ihm in die Finger kam, und verlor sie dann prompt –, gelang es ihm letztlich doch, alles Notwendige in drei Überseekisten und etliche Koffer und Reisetaschen zu packen, die allerdings so vollgestopft waren, daß sie am Bahnhof einen ganzen Trupp von Gepäckträgern beinahe kapitulieren ließen. Am Vormittag ihrer Abfahrt, die Sonne strahlte so hell, daß alles von innen zu leuchten schien, fühlte er sich wie ein Höhlenmensch, den man aus unterirdischen Tiefen freigelassen hatte.
    Am ersten Tag der Reise saß er die ganze Zeit nur am Fenster, ein ungeöffnetes Buch auf dem

Weitere Kostenlose Bücher