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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Schoß. Die Landschaft beruhigte seine Augen, und er sah zu, wie die Sonne von Chicago mit ihm westwärts nach Missouri und dann in den Krieg mit den Wolken zog. Er schlief tief und fest und aß gut (seine Mutter hatte die unerläßlichsten Dienstboten mitgenommen, darunter die norwegische Köchin), und am dritten Tag war er so entspannt, daß er schon wieder unruhig wurde. Deshalb schlug Nettie vor, er solle sich die Pläne für Mary Virginias Haus ansehen und seine Ideen dazu äußern, sie sei nicht ganz sicher hinsichtlich des Musikzimmers, ob man es im Ost- oder im Westflügel einrichten solle, je nachdem ob Mary Virginia lieber morgens oder abends spielte und Sonne mochte oder nicht, andererseits machte es vielleicht gar nicht soviel aus, weil sie in Kalifornien ja ohnehin massenhaft Sonnenschein hatten. Was war seine Meinung dazu?
    Stanley warf sich über die Blaupausen wie ein Mann, der eine Rettungsweste von der Reling eines sinkenden Schiffes reißt. Er breitete sie auf dem Tisch aus und studierte sie stundenlang, vergaß die Umgebung, seine Mutter, die Dienstboten, die gelben Ebenen von Texas und die fernen staubigen Cowboys auf ihren fernen staubigen Pferden. Mit einem Winkellineal und einer Handvoll frisch gespitzter Bleistifte nahm er etliche höchst detaillierte Änderungen vor, versetzte Wände, trug Höhenangaben ein, wo sie fehlten, skizzierte sogar Buschwerk im Garten und hie und da die schraffierte Gestalt von Mary Virginia, wie sie am Flügel saß oder über den Innenhof schlenderte.
    Was hielt er von den Plänen? Daß sie überhaupt nicht stimmten, daß sie eine Beleidigung waren, das Produkt ahnungsloser Hirne und falsch verstandener Voraussetzungen. Und was dachte er noch? Daß sie Shepley, Rutan & Coolidge wegen Inkompetenz kündigen sollten, denn jeder Narr von der Straße hätte einen praktischeren und ansprechenderen Entwurf liefern können, und der Vertreter der Architektenfirma in Santa Barbara möge besser sein Reißbrett mitbringen. Doch zu seiner Mutter sagte er nur: »Wenn es dir recht ist, würde ich gern ein paar Abänderungen vorschlagen...«
    Am Ende blieben sie fast vier Monate lang, sie stiegen im Arlington ab (das Potter mit seinem schönen Meerblick, den sechshundert Zimmern und dem extra angefertigten Porzellangeschirr im Wert von einundzwanzigtausend Dollar sollte erst 1903 vollendet werden), und in dieser Zeit änderte Stanley die ursprünglichen Pläne bis ins letzte Detail, von der Höhe der Türen bis zur Form der Wandsimse im Bedienstetentrakt. Und zwar änderte er sie täglich, manchmal stündlich, besessen und fixiert, wie festgeklemmt in einem Spalt der Konzentration. Wie zu erwarten war, führte dies zu beträchtlichen Reibungen mit denjenigen, die man für die Errichtung des Gebäudes engagiert hatte. Der Architekt von Shepley, Rutan & Coolidge kündigte noch im selben Monat, ebenso der Baumeister, und der Nachfolger des Architekten, der extra aus Boston geholt worden war, hielt es keine Woche aus. Stanley ließ sich nicht beirren. Und Nettie ebensowenig. Sie vertraute ihrem Sohn, und es freute sie, daß er sich so besorgt um das Wohlergehen seiner armen Schwester zeigte und seine ganze Fowler-Intensität in die Blaupausen hineinlegte: lauter wunderschöne rechtwinklige Grund- und Aufrißzeichnungen mit diesen allerliebsten Gebüschtupfern und den kleinen Männchen in den Zimmern – und es war tatsächlich die Fowler-Familie, die da aus ihm herausbrach, das vollendete Ebenbild ihres eigenen Vaters, womit sie den McCormicks gar nichts absprechen wollte, keineswegs, aber sie kannte ihren Jungen. Und wie er diesen Architekten und Baumeistern, ja sogar den sizilianischen Steinmetzen Beine machte... ihm entging einfach nichts. Und daß er etwas unentschlossen dabei war, nun, das war eben auch ein Zug der Fowlers – es hieß ja nur, daß er leidenschaftlich Anteil an etwas nahm, sich immer und immer wieder selbst überprüfte, alles in Frage stellte.
    Bei dieser Lage der Dinge begannen die Bauarbeiten ernsthaft erst dann, als Nettie und Stanley nach Chicago abreisten und der gleichmütigste aller Architekten endlich zügig arbeiten konnte, ohne daß ständig Fragen gestellt wurden. Stanley kehrte zu seinem früheren Lebensrhythmus zurück – zu den Kursen in Schadenersatzrecht und Buchhaltung, in das große offene Büro hoch über dem Werksboden der Mähmaschinenfabrik, in dem das tyrannische R überall in den Akten lauerte, zu den Abendessen mit seiner Mutter und

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