Road of no Return
antworten konnte, daran gedacht, sie so etwas zu fragen.
»Und wie geht es deiner Großmutter?«, erkundigte sich Shuggie nun. »Ich schätze, es könnte ihr schlechter gehen.«
Das war noch so eine ärgerliche Angewohnheit. Der kleine Spinner schien Gedanken lesen zu können, aber ich hatte keine Lust auf einen von Shuggies Philosophievorträgen. »Hau ab, Shugs«, verlangte ich. »Was weißt du schon davon?«
»Nun, die Frage ist, was sie weiß. Objektiv gesehen weiß sie ja nicht, dass etwas nicht stimmt, oder? Ehrlich, es könnte schlimmer sein. Denk nur an meinen Dad.«
Ich wollte schon den Mund zu einer fiesen Bemerkung aufmachen, hielt mich aber im letzten Moment zurück. Ich hatte mir überflüssige Grausamkeit abgewöhnt, als ich zwei Wochen nach seinem Tod den ersten schlechten Witz über Aidan gehört hatte.
Shuggie hatte mir einmal erzählt, dass er nicht um seinen Vater trauerte, nicht nach seinem Tod, denn er freute sich für ihn und wünschte sich, er hätte ihm gleich ein Kissen aufs Gesicht gedrückt, so wie sein Vater es von ihm verlangt hatte (da war Shugs gerade mal elf). Vielleicht würde es für mich ja genauso sein. Vielleicht würde ich mich für Lola Nan freuen. Vielleicht sollte ich ihr auch ein Kissen aufs Gesicht drücken, auch wenn sie mich nicht darum gebeten hatte …
»Warum entschuldigst du dich nicht bei ihr?«, fragte Shuggie.
Was? Bei Lola Nan? Im Voraus? Die Welt begann sich um mich zu drehen. Mit Shuggie zusammen zu sein, hatte etwas von virtueller Realität. »Bei wem?«
»Orla«, seufzte er mit einem leidend-geduldigen Gesichtsausdruck.
»Warum sollte ich mich bei ihr entschuldigen? Ich habe doch gar nichts getan?«
»Willst du sie jetzt poppen oder nicht?«
Das reichte. Ich fuhr herum und packte ihn an den Schultern, spürte, wie sich meine Finger in sein mageres Fleisch krallten, und wusste, dass ich ihm wehtat, aber mir fiel nichts ein, was ich ihm in sein vorwurfvolles Gesicht schleudern könnte.
»Hör mal Nick, du bist doch nicht schwul, oder? Denn ich steh nicht auf dich.«
Er blinzelte mich nervös an, und sowohl mein Griff als auch mein Kiefer lockerten sich, während ich mich fragte, wie ich ihm die Eingeweide herausreißen konnte, ohne dass ihm jemand zu Hilfe eilte. Ich glaube, nervöses Blinzeln war
ein unglaublich schlauer Abwehrmechanismus von Shuggie. Ich würde ihn nie totprügeln können. Also ließ ich ihn los und bedeckte mein Gesicht mit den Händen, um das Lachen zu verbergen.
»Shugs, ich schwör …«
»Ja, ja, machst du öfters. Aber es kommt nicht darauf an, was du getan oder nicht getan hast. Orla ist beinhart. Glaubst du, irgendjemand hat ihr je gesagt, dass es ihm leidtut wegen … hm … du weißt schon, was? Niemand bringt das Thema zur Sprache, verstehst du. Niemand würde es je erwähnen. Jemand muss ihr sagen, dass es ihm leidtut. Sie braucht jemanden, mit dem sie darüber reden kann. Und wenn du das bist … na ja, vielleicht ist sie dann so überrascht und dankbar, dass sie sogar vergisst, dass du ein Blödmann bist.«
Ich presste die Kiefer zusammen, um nicht zu sabbern. Was er sagte, ergab irgendwie einen verrückten Sinn. Vielleicht klammerte ich mich aber nur an Strohhalme. »Ist die Luft da oben eigentlich dünn?«
»Wo?«
»Da oben auf dem Shuggie-Planeten?«
Seufzend hievte er sich die Tasche auf die Schulter. »Man kann niemandem helfen, der sich nicht helfen lassen will.«
»Du bist doch bekloppt«, erwiderte ich.
»Wie du meinst.«
»Bekloppt«, wiederholte ich.
»Ich muss jetzt in den Physikunterricht.« Würdevoll zog er ab.
»Irrer!«, schrie ich ihm nach. »Verdammter Irrer! Hältst du mich für so blöd, so einen Rat anzunehmen?«
6
Am nächsten Tag saß Orla mittags genau an derselben Stelle. Drei Dinge störten mich daran. Warum durfte sie mitten im Blickfeld von McCluskeys Büro über den Zaun klettern und die ganze Mittagspause am Bach sitzen? Warum hatte sie seit ein paar Tagen ihre Clique wie eine Schlangenhaut abgestreift? Und wieso las sie jetzt ein anderes Buch? Offensichtlich war sie mit Albert Soundso schon fertig, denn jetzt las sie Ian McEwan, und auch das stand meines Wissens nicht auf der Leseliste für die Schule.
»Es tut mir leid«, sagte ich leise zu ihrem Hinterkopf.
Ihre rechte Hand lag auf den Seiten des Ian McEwan. Graziös hob sie sie und ballte sie beiläufig zur Faust. Ihr Mittelfinger streckte sich und zeigte in die Luft. Fasziniert von dem schwarzen Fingernagel
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