Road of no Return
betrachtete ich ihn, wie er sich gemächlich senkte, um umzublättern.
Shuggie, dachte ich, du nutzlose kleine Verschwendung von Platz, Gedanken und Zeit.
Aber da stand ich nun. Sich umzudrehen und wegzugehen würde für mich den Verlust meiner restlichen Würde bedeuten und davon würde ich mich nie wieder erholen. Also ließ ich mich neben ihr nieder.
Sie würdigte mich keines Blickes. Zumindest glaube ich das, denn durch das glänzende, dichte dunkle Haar mit der platinblonden Strähne, das ihr vors Gesicht fiel, war das nur schwer zu erkennen. Ich wirkte bestimmt so steif und aggressiv wie ein tiefgefrorener Dobermann, daher stützte ich mich auf einen Ellbogen und versuchte, meine Muskeln zu entspannen. Das war entsetzlich unbequem, aber ich konnte es nicht ändern. Mein Kiefer mahlte einen imaginären Kaugummi, doch als mir klarwurde, wie dämlich das aussehen musste, ließ ich es bleiben.
»Um Himmels willen«, seufzte Orla. »Setz dich hin, bevor du noch einen Krampf kriegst.«
Ich wartete der Würde halber einen Moment ab und gehorchte dann. Ich legte die Arme um die Knie, damit ich sie nicht um sie legte.
»Es tut mir leid wegen Allie«, stieß ich hervor. »Das ist alles. Weil sie so tut mit Aidan und so. Das wollte ich nur sagen und vielleicht sollte ich lieber gehen und …«
»Halt die Klappe«, befahl mir Orla und blätterte die Seite um.
»Okay«, sagte ich und schluckte. Niemals, niemals, niemals wieder, schwor ich mir, würde ich auf Shuggies dämliche Vorschläge hören, nie, nie wieder.
»Ich will deine blöde Entschuldigung nicht.«
»Klar«, antwortete ich. »Gut. Okay. Verstehe ich. Sor … Okay.«
Ich wartete darauf, dass sie mir befahl zu verschwinden. Ich wusste, dass sie es irgendwann tun würde und dass ich besser gehen sollte, bevor das geschah, doch ich brachte es
nicht fertig, aufzustehen und wegzugehen. Wie ich so dasaß und ihr halb verborgenes Profil betrachtete, war ich mir gar nicht so sicher, ob ich Orla Mahon überhaupt mochte. Vielleicht lag es an den Schuldgefühlen wegen ihres Bruders. Schuldgefühle sind schon eine merkwürdige Sache. Ich fühlte mich ihretwegen mies, deshalb mochte ich sie nicht.
Dennoch wollte ich neben ihr sitzen bleiben, bis es nicht mehr ging. Wenn sie es zuließ, bis die Welt in die Sonne stürzte.
Sie knickte fein säuberlich ein Eselsohr in eine Seite, klappte das Buch zu und legte es ins spärliche Gras neben sich. Jetzt kommt es, dachte ich, und ein schmerzliches Bedauern krampfte mir die Eingeweide zusammen.
Sie legte ebenfalls die Arme um die Knie. Dass sie sich genauso hinsetzte wie ich mich, hielt ich für ein gutes Zeichen, und gleich keimte wieder Hoffnung in meinem Herzen auf. Vielleicht war es nur eine Stimmungsschwankung, aber das war doch gut, oder? Die Körpersprache des anderen zu imitieren. Hatte ich das nicht irgendwo gelesen?
Ach, Hormone und Lust, damit kann man nicht vernünftig denken.
»So hieß er«, sagte sie. »Aidan.«
Ich kaute auf der Innenseite meiner Wange herum. Ihre Stimme klang trocken und bitter und kühl, und da ich nicht genau wusste, auf was sie hinauswollte, hielt ich lieber den Mund.
»Du hast es ausgesprochen«, erklärte sie. »Aidan hast du gesagt. Seit einem Jahr hat niemand vor mir seinen Namen erwähnt. Nicht außerhalb von zu Hause.«
»Oh«, machte ich.
Sehr geistreich. Super, Nick.
»Weißt du, was mit deiner Schwester ist?«, fragte sie.
»Äh …«, begann ich und hielt inne, weil ich wieder nicht wusste, worauf sie hinauswollte.
»Sie hat nie aufgehört, ihn zu erwähnen«, meinte Orla.
»Sie hört nie auf mit ihm«, ergänzte ich und wünschte mir sofort, ich hätte das nicht gesagt.
»Stimmt. Aber zumindest spricht sie über ihn. Sie tut nicht so, als hätte es ihn nie gegeben, weißt du? Sie tut so, als gäbe es ihn immer noch. Was mir eigentlich … sogar besser gefällt. «
Schweigend saßen wir da. Schwach schien die Sonne durch die Bäume und glitzerte auf dem Wasser des Baches, der glänzte wie eine ölverschmierte Klinge. Ich warf einen schmutzigen Ast hinein und sah zu, wie er zum Walmaul hinuntertrieb, wo er sich am rostigen Gitter in einem Stück blauem Plastik verfing.
»Es ist eben Allies Art, damit fertigzuwerden«, erklärte ich, »verstehst du?«
Orlas Schulter bewegte sich unmerklich. »Sie anzumachen, das ist Mums Art, damit fertigzuwerden.«
»Dann bist du also nicht …«
»Es stört mich nicht«, sagte Orla. »Das erzählt Mum nur, weil sie nicht
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