Roberts Schwester
kam als Pflegerin für meine Mutter, die danach noch ungefähr ein halbes Jahr lebte. Das soll – um Gottes willen – nicht heißen, dass Lucia ihr Sterben in irgendeiner Weise beschleunigt hätte. Es ging eben zu Ende, und Lucia war die Letzte, die sich um dieses elende Bündel Mensch kümmerte, es wusch und fütterte, den Schweiß von der Stirn wischte, falls es Schweiß auf Mutters Stirn gegeben haben sollte. Ich weiß es nicht. Ich sah sie in dem halben Jahr vielleicht noch dreimal und nur durch die offene Tür, wenn ich gerade auf der Galerie vorbeiging und Lucia im selben Moment das Zimmer verließ, um etwas für sie zu holen. Lucia war in einem kleinen Ort in der Nähe von Madrid geboren, ganze achtzehn Jahre jung, ein Engel, randvoll mit Geduld, die Sanftmut in Person, ohne Scheu oder gar Ekel vor allem, was menschlich und natürlich ist. Das begriff auch Vater sehr schnell. Lucia war wie geschaffen, um einen Mann zu trösten, der sich vermutlich kaum noch erinnerte, wie es war, mit einer Frau zu schlafen. Wann er das erste Mal zu Lucia ins Bett stieg, kann ich nur raten. Keinesfalls solange Mutter noch lebte. Er war in dieser Hinsicht – wie soll ich sagen – gehemmt, verklemmt oder vom alten Schlag. Er hielt seinen Treueschwur – bis dass der Tod euch scheidet. Und selbstverständlich war es für ihn Ehrensache, das junge Mädchen zu heiraten und Lucia so die Ehre zurückzugeben, nachdem er sie ihr genommen hatte. Das war ein gutes Jahr nach Mutters Tod. Vater war damals schon neunundvierzig. Und noch ein gutes Jahr später wurde Robert geboren. Er war ein sehr zufriedenes Kind und ein wunderschönes noch dazu, äußerlich und innerlich. Er war wie seine Mutter, völlig ohne Falsch, gut und geduldig, sanft und freundlich bis in die letzte Faser seiner Existenz. Daran hat sich nie etwas geändert. Für mich war Robert immer ein Idealmensch. Und er wurde für mich rasch zum Inbegriff von Liebe und Geborgenheit. Daheim sein, das war für mich nicht das Haus, es war Roberts Nähe. Wenn ich ihn nachts im Nebenzimmer wusste, konnte ich innerhalb weniger Minuten einschlafen. Holte Lucia ihn einmal zu sich ins Bett, war er ein Zimmer weiter von mir entfernt, und es dauerte schon eine Stunde, ehe ich zur Ruhe kam. Vater war viel unterwegs. Seinen Beruf gab er mit Kaufmann an. Er hatte von seinem Vater ein kleines Vermögen geerbt und war vollauf beschäftigt, ein großes daraus zu machen. Er kaufte und verkaufte alles, was sich kaufen und verkaufen ließ. Aktien, Immobilien, Beteiligungen, Anteile. Ich habe damals nicht verstanden, was genau Vater machte. Ich hatte auch kein Interesse an seinen Geschäften. Es war immer genug Geld da, um all die kleinen und großen käuflichen Träume zu erfüllen. An Puppen, Kleidern und Schuhen hat es mir nie gemangelt. In materieller Hinsicht habe ich niemals etwas entbehren müssen. Und für den Rest sorgte Robert. Wenn er ein Zimmer betrat, hatte ich das Gefühl, der Tag wurde heller. Ich weiß noch, dass ich mich in der Schule regelmäßig prügelte, wenn jemand sagte:
«Er ist doch nur dein Stiefbruder.»
Schon als Kind war ich fest entschlossen, ein Leben lang mit ihm zusammenzubleiben. Ich brauchte ihn. Wenn ich im schwarzen Keller meiner Depressionen saß, war er der Einzige, der mich zurück ans Tageslicht holen konnte. Er musste nur in meiner Nähe sein, mich anlächeln, vielleicht noch seine kleine Hand auf meine legen oder mir durchs Gesicht streichen, dann ging es mir gut. Als ob er mit einer simplen Berührung oder mit seinem Lächeln einen Teil seiner kraftvollen Ruhe, dieser inneren Ausgeglichenheit, auf mich hätte übertragen können. Genauso war es, wenn ich in Wut geriet, wenn ich am liebsten alles um mich herum kurz und klein geschlagen hätte. Ich musste nur seine Stimme hören, dann fühlte ich, wie sich im Innern etwas entkrampfte, wie mir leichter wurde. Und wenn ich glaubte, innerlich zu vertrocknen, brachte er mit seiner Zärtlichkeit neues Leben in die Wüste. Lucia hatte es rasch aufgegeben, sich um mein seelisches Gleichgewicht zu bemühen. Sie behandelte mich wie ein Explosivgeschoss, ganz vorsichtig und bedächtig. Vater ging mir nach Möglichkeit aus dem Weg. Als ich das entsprechende Alter erreichte, drängte er darauf, ich solle im Ausland studieren. Er machte etliche Vorschläge, die in seinen Augen verlockend erscheinen mochten. Als alles nichts half, verwies er auf seine Jahre.
«Mia, ich bin zu alt, um mich täglich auf die Palme
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