Roberts Schwester
Jahre lang war ich bei ihm in Behandlung. Als Robert mit vierundzwanzig zum ersten Mal heiratete, war ich seit langem geheilt. Davon war sogar Piel überzeugt. Ich hatte gelernt, mich damit abzufinden, dass es auch für einen Mann wie meinen Bruder überall nur Normalität geben konnte. Ich konnte keine Göttin aus dem Olymp herabsteigen lassen, um ihn zu lieben. Ich konnte aus Lehm keine Eva für ihn formen und ihr meinen Atem einhauchen. Ich konnte auch keine Idealfrau für ihn aus Stein schlagen. Seine erste Frau Marlies war ein hübsches Mädchen, keine Schönheit, aber nett, lieb, umgänglich und anschmiegsam, in keiner Weise außergewöhnlich und in keiner Weise berechnend. Sie stammte selbst aus einer wohlhabenden Familie, war nicht an Geld interessiert, nur an ihm. Sie vergötterte ihn. Ich denke, Marlies war sich jederzeit bewusst, dass sie mit Robert an ihrer Seite zu den vom Schicksal Begünstigten zählte. Ich mochte sie sehr gerne und kam gut mit ihr aus. Piel sagte später, Marlies habe sich mir bedingungslos untergeordnet. Ich hätte in ihr nie die Konkurrentin um Roberts Gunst gesehen, folglich hätte ich sie akzeptieren können als Anhängsel meines Bruders. Aber Piel hatte sich in mehr als einem Punkt geirrt. Und er war nicht der Mann, der Irrtümer eingesteht. Ich wollte Robert niemals für mich alleine. Und ich habe ihn nie als Mann begehrt, jedenfalls nicht bewusst. Mag sein, dass ich manchmal ein paar Phantasien hatte. Nachts vor allem, wenn es im Haus so still war, dass ich jedes Geräusch aus dem Nebenraum hören konnte. Das erregte Flüstern, das verhaltene, lustvolle Stöhnen, später dann diesen heiser klingenden, kurzen Laut des Höhepunktes. Ich wusste immer, es war Robert, der diesen Laut ausstieß. Marlies war zu farblos für leidenschaftliche Ausbrüche. Und Robert, ich musste ihn nur ansehen, um zu wissen, wohin er eine Frau mitreißen konnte, wenn sie nur bereit war, ihm zu folgen. Für mich war es faszinierend zu erleben, dass zwei so unterschiedliche Menschen wie Vater und Lucia sich ausschließlich mit ihren Vorzügen in einem Dritten vereinigt hatten. Von Vater hatte Robert die Größe, die schlanke Figur, die gepflegten Hände und das sichere Gespür für gute Geschäfte. Von Lucia hatte er das ebenmäßige Gesicht, die Haarfarbe – ein sehr dunkles Braun –, den sanften, gradlinigen Charakter, die perfekt geschwungenen Lippen und die Augen. Fast schwarze Augen, so dunkel, dass man Iris und Pupille nicht unterscheiden konnte. Ein Blick wie der Glutrest in einem Kamin. Man sieht ihn und weiß, dass man aus diesem Rest augenblicklich ein neues Feuer entfachen kann. Man muss nur ein wenig Holz nachlegen und ihn anhauchen. Alleine im Bett zu liegen und ihm zuzuhören führte zwangsläufig zu bestimmten Vorstellungen. Aber ich besaß doch genug Verstand, um zu wissen, dass es Grenzen gab. Und andere Männer. Ich war einunddreißig damals, keine ausgesprochene Schönheit. Aber apart, diesen Ausdruck hörte ich oft. Beruflich hatte ich gerade den Durchbruch geschafft und einige Galeristen zu Lobeshymnen veranlasst. Ich war auf dem besten Weg, mir einen großen Namen in der Kunstszene zu machen. Und sehr vermögend war ich dank des Geschäftssinns unseres Vaters, was auf viele Männer ebenfalls sehr anziehend wirkte. In unserem Steuerberater Olaf Wächter hatte ich einen Mann gefunden, bei dem ich sicher sein durfte, dass er nicht ausschließlich auf mein Geld schaute. In der Öffentlichkeit vorzeigen konnte ich ihn auch jederzeit. Ein Mann in den besten Jahren, mit exzellenten Manieren, ehrgeizig, ledig, gebildet, gut aussehend. Kein Vergleich mit Robert, aber ein recht passabler Liebhaber mit ausreichendem Gespür für Kunst und dem festen Willen, mit mir glücklich zu werden. Häufig saßen wir abends zu viert auf der Terrasse und schmiedeten Zukunftspläne. Marlies träumte von einem Baby. Robert wollte noch warten. Er fühlte sich noch nicht reif genug für eine weitere Verantwortung. Vater war im Jahr zuvor gestorben, und Robert hatte die Geschäfte übernommen. Er tat sich anfangs etwas schwer damit und war gerade erst dabei, sich mit Olafs Hilfe einen Überblick zu verschaffen.
«Ein Kind», sagte er immer, wenn Marlies zu schwärmen begann,
«das hat doch Zeit.»
Und ich wünschte mir, er möge ihr so bald als möglich eins machen. Ich dachte, dass ich ihn auf Geschäftsreisen begleiten könnte, wenn Marlies mit einem Baby beschäftigt war und daheim bleiben musste. Wir
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