Rocking Horse Road (German Edition)
trug wie üblich dunkle Sachen. Vor den beiden saßen die Mädchen auf einer Bank. Lucy links im Bild, einen Fuß über den anderen gelegt, die Hände im Schoß gefaltet. Mr. Ashers Hand lag schützend auf ihrer Schulter. Alle Ashers sahen ernst in die Kamera.
Außer den verwelkenden Blumen und den Fotografien erwähnte Roy noch den Weihnachtsbaum der Ashers. Er nahm eine Ecke der Küche ein, die Spitze stieß gegen die Gipsdecke, so daß kein Platz blieb für einen Engel oder wenigstens einen Stern. Wie zum Ausgleich dafür bogen sich alle Äste unter dem Gewicht des Christbaumschmucks. Roy war klar, daß alle Geschenke der Familie, Lucys eingeschlossen, noch unausgepackt unter dem Baum lagen. Er wandte unauffällig den Kopf und erkannte Lucys Namen auf mindestens zwei Karten, die noch immer auf den Geschenken standen wie leicht geöffnete Herzmuscheln.
Roy blieb so lange am Tisch sitzen, wie er es aushielt, schwitzte in der Hitze, hörte seine Schwester schniefen und seine Mutter und Mrs. Asher über Dinge reden, die nichts mit Lucy zu tun hatten. Schließlich bat er, die Toilette benutzen zu dürfen. Mrs. Asher wies ihn durch eine Tür in einen engen Flur. Das Bad lag ganz am Ende, doch Roy schnüffelte herum, bis er die halbgeöffnete Tür zu dem Zimmer fand, von dem er glaubte, es müßte das von Lucy und ihrer Schwester sein. Die Polizei hatte Absperrband davor angebracht. Roy duckte sich darunter weg und trat ein.
Die Vorhänge waren zugezogen, und der Raum lag im Halbdunkel. Wir können uns nur vorstellen, wie Roy sich gefühlt haben muß, als er so in Lucys Zimmer stand. Er hatte keine ältere Schwester, und das Zimmer muß ihm wie eine völlig fremde Welt vorgekommen sein, so exotisch und dämpfig wie der Dschungel auf Borneo. Er blieb im Türrahmen stehen, bewegungslos wie ein Einbrecher. An den Wänden hingen Poster: Sting, Adam and the Ants. Eine Kommode stand voll mysteriöser Tuben und Fläschchen. Roy hat uns erzählt, daß der Geruch von Seife so dick in der Luft hing, daß man ihn fast sehen konnte. Als wir ihn nach weiteren Details ausquetschten, erinnerte er sich noch an einen Strauß getrockneter Rosen, der über der Kommode von der Zimmerdecke hing. Es habe auch noch weitere, dunklere Gerüche gegeben, die er nicht identifizieren konnte.
Und es gab Puppen. Er schätzte etwa zwanzig, die auf einer Holztruhe am Fuß eines der beiden Betten aufgereiht waren. Diese Puppen verunsicherten ihn, es war, als träte er vor einem kleinen, regungslosen Publikum auf.
Durch die Wände konnte er die spröde Stimme von Mrs. Asher hören, die mit seiner Mutter sprach. Roy trat vor und öffnete Lucys Kleiderschrank. Er stellte sich vor, wie Lucy an dieser Stelle stand und sich das Kleid aussuchte, in dem sie später ermordet werden würde, wie sie es vor dem großen Spiegel in der Schranktür hochhielt (hätte sie wohl ein anderes genommen, wenn sie es gewußt hätte? Eine dumme Frage, aber genau über solche Dinge haben wir oft stundenlang diskutiert). Roy sagte später, er habe sich als etwas ganz Besonderes gefühlt, daß er da stehen und ihre Kleider anschauen, gar dieselbe parfümierte Luft atmen durfte wie Lucy früher.
Er streckte eben die Hand aus, um Lucys Kleider zu berühren, als er ein Hüsteln hörte und bemerkte, daß er nicht allein war. Zuerst dachte er natürlich, es wäre Lucy. Wie auch nicht? Er war in ihr Zimmer eingedrungen, und jetzt war sie da, um ihn zurechtzuweisen. Er drehte sich auf dem Absatz um und sah eine Gestalt, die auf dem gemachten Bett unter dem Fenster lag. Sie lag völlig still, starrte an die Decke, hatte die Arme vor der Brust gefaltet, und ihre Zehen zeigten an die Zimmerdecke. Ohne ihn anzusehen, sagte sie:
»Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?«
Carolyn Asher trug ein Sommerkleid, das ihr zu groß war. Sie stand ruhig von ihrem Bett auf und kam durchs Zimmer auf Roy zu. Er war wie gelähmt und fragte sich nur, wie er sein Eindringen hier seiner Mutter und Mrs. Asher erklären sollte. Dann, im Halbdunkel von Lucys Zimmer, küßte ihn Carolyn voll auf den Mund.
Soweit uns bekannt, war Roy noch nie von einem Mädchen geküßt worden, außer bei einem Pfänderspiel auf Mark Murrays zwölftem Geburtstag. Aber wenn Carolyn ein Spiel spielte, dann nur, um zu gewinnen. Sie küßte Roy mit einer Heftigkeit, die er sich nicht mal in seinen wildesten Phantasien vorgestellt hatte, und preßte ihren Mund auf seinen. Er spürte ihre Zähne an seinen Lippen, und dann
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