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Rocking Horse Road (German Edition)

Rocking Horse Road (German Edition)

Titel: Rocking Horse Road (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Nixon
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drängte sich ihre Zunge in seinen Mund. Sie war naß und, wie er uns sagte, erstaunlich kräftig. Roy war groß und Carolyn ein Jahr jünger als er, dennoch war sie nicht kleiner. Roy erinnerte sich, daß sie ihren Körper von ihm entfernt hielt, auf den Fußballen balancierend wie eine Ballerina. Der einzige Punkt, wo sie ihn berührte, war ihr Mund.
    Er wußte nicht, wie lange sie ihn küßte. Plötzlich löste sie sich, machte einen Schritt zurück und taxierte sein Gesicht. Roy sagte, ihr Blick war streng prüfend, wie bei einem Maler, der von einem fast fertigen Bild zurücktritt. Offenbar war Carolyn Asher zufrieden mit dem, was sie sah. Er wollte gerade etwas sagen, da schlüpfte sie an ihm vorbei. In der Tür blieb sie stehen. »Du solltest nicht hier drin sein«, sagte sie. Tauchte unter dem Absperrband durch und war verschwunden.
    Roy stand im Halbdunkel. Er muß völlig durcheinander gewesen sein. Der Geschmack von Zahnpasta und Speichel, den Carolyns Kuß hinterlassen hatte, lag noch auf seinen geschundenen Lippen. Lucys Puppen haben ihn wahrscheinlich anklagend angestarrt. Er sagte, als er das Zimmer schließlich verließ, war von Carolyn nichts mehr zu sehen. Verwirrt, wie er war, hatte er Schwierigkeiten, sich zu orientieren, fand aber endlich
    den Weg zurück in die Küche. Als er reinkam, hatte er für einen Sekundenbruchteil den Eindruck, daß seine Mutter und Schwester und Mrs. Asher in einem Blumenmeer ertranken und nur noch ihre Köpfe über den Duftwogen zu sehen waren.
Während der glühend heißen Woche zwischen Weihnachten und Neujahr und dann den ganzen Sommer über legten Leute dort, wo Lucy gefunden wurde, Sachen hin. Anfangs legten sie sie einfach auf den Sand, aber die Flut und der Ostwind nahmen sie mit, und deshalb bot sich das Warnschild als Schrein an. Es stand jenseits der Hochwassermarke und war durch eine Senke in den Dünen vor dem Wind geschützt. Wir haben nie jemanden kommen oder gehen sehen. Narzissen und Lilien schienen wie durch ein Wunder aus dem trockenen Sand am Fuß des Schilds zu sprießen, bevor sie am Nachmittag verwelkten. Zettel und Briefe, die von Steinen beschwert waren, tauchten über Nacht auf. Ein kleiner brauner Teddybär und etwas später ein rosafarbener Hase wohnten fast den ganzen Januar und bis weit in den Februar hinein dort, bevor sie weiterzogen.
    An Silvester wurde ein Schwarzweißfoto sehr sorgfältig mit gelbem Band an dem Schild befestigt. Ein Bild, das wir noch nie gesehen hatten. Lucy saß in einem kurzen Sommerkleid auf einer Couch. Viel von ihren Beinen war zu sehen. Sie lächelte entspannt und schaute über den Rand einer herzförmigen Sonnenbrille hinweg direkt in die Kamera. Ehrlich gesagt, verunsicherte uns das Foto. Lucy sah älter aus als in unserer Erinnerung, selbstbewußter und fraulicher, als wir zulassen wollten. Wir mißtrauten demjenigen, der das Bild gemacht hatte, waren zugleich aber auch eifersüchtig. Al Penny überlegte laut, wann man wohl schicklicherweise das Bild abnehmen und in unser Archiv überführen könnte (Exponat 14).
    Doch meistens hinterließen die Leute Gedichte. Es kam uns vor, als sei jeder, der Lucy gekannt hatte, in diesem Sommer zum Dichter geworden. Sie befestigten die Gedichte mit Reißzwecken und Schnur an dem Schild, doch der Wind riß sie immer ab. So war es nicht ungewöhnlich, ein Gedicht über die Straße wehen oder zwischen Lupinen gekreuzigt zu sehen. Weiße Gedichte schwebten wie Möwen vor dem strahlend blauen Himmel. Sie wirbelten in der Brandung oder bewegten sich im Schilfrohr am Lagunenrand wie kleine weiße Wiegen auf und ab. Oft waren die Worte von der Sonne ausgebleicht oder vom Wasser ausgewaschen, aber manchmal konnte man die Gedichte auch lesen.
    Wir stimmten darin überein, daß die Gedichte von Mädchen geschrieben worden sein mußten. Die i-Punkte bestanden aus gebrochenen Herzen. Auf »Lucy« reimte sich »merci«. Wenn wir noch lesbare Gedichte fanden, brachten wir sie zurück zu dem Schild. Wir machten sie wieder fest oder legten sie mit Steinen beschwert in den Sand, damit sie nicht so schnell wieder wegfliegen konnten. Ein paar der besseren nahmen wir mit für unser Archiv (Exponat 27 A–F).
Der Gedanke an die Silvesternacht nach Lucys Ermordung hat für uns alle einen bitteren Beigeschmack. Wir waren düsterer Stimmung. Lucy war keine zwei Wochen tot. Wir verspürten keinerlei Verlangen, uns in die Menschenmenge zu stürzen, die sich jedes Jahr im Stadtzentrum versammelt, um

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