Rocking Horse Road (German Edition)
Templeton stand im Dunkeln und pinkelte zum drittenmal an diesem Abend in hohem Bogen ins Dünengras, als plötzlich Mr. Asher geräuschlos auf der nächsten Düne auftauchte. Matt muß zu Tode erschrocken sein, denn als er später davon erzählte, bemerkten wir, daß sein rechter Fuß naß und voller Sand war.
Mr. Asher war im Mondlicht stehen geblieben. Matt glaubte nicht, daß er ihn gesehen hatte. Später erzählte uns Matt, daß das Licht des Feuers nicht bis dorthin reichte, wo er stand, dennoch war es hell genug, um die tiefen Furchen auf Mr. Ashers Stirn zu erkennen. Er hatte etwas in der Hand, das Matt beschrieb als »ungefähr so groß wie eine Kühltasche, aber in ein Handtuch verpackt. Ich konnte leider nicht erkennen, was es war.«
Matt verharrte regungslos und schaute, aber Mr. Asher stand einfach nur da und starrte lange auf unser Feuer. Wenn er Matt bemerkt hatte, zeigte er dies zumindest nicht. Zwei Salzsäulen in der Dunkelheit. Schließlich ging er rutschend die Düne hinunter. Er wandte sich am Strand nach Süden, weg von unserem Feuer. Möwen, die im Sand schliefen, krächzten unruhig, als sich Mr. Asher näherte, flogen aber nicht weg. Matt folgte ihm neugierig.
Mr. Asher brauchte ungefähr zehn Minuten, bis er am Kanal war. Er schien es nicht eilig zu haben. Matt hielt sich eng bei den Dünen, wo er nicht gesehen werden und wo ihn das Knirschen von Muscheln unter den Füßen nicht verraten konnte. Schließlich blieb Mr. Asher am tiefen, rasch fließenden Wasser stehen. Die Flut ging zurück, und die Lagune leerte sich schnell. Draußen auf dem Wasser sah man Schaumkronen bei der Sandbank, wo die Strömung aus der Lagune auf das Meer traf.
Matt schaute zu, wie Mr. Asher auspackte, was er in der Hand hielt. Der große, dünne Mann ging in die Hocke und setzte es vorsichtig aufs Wasser. Matt konnte nur erkennen, daß es ein etwas dunklerer Gegenstand war, wie ein kleines Boot auf dem Wasser. Was immer Mr. Asher da ausgesetzt hatte, würde schon in wenigen Minuten von der Strömung weit aufs Meer hinausbefördert werden – soviel wußte Matt.
Mr. Asher stand auf, drehte sich um und ging weg. Er hatte sein ganzes Leben auf The Spit verbracht und fand auch im Dunkeln sofort den Anfang des Wegs, der ihn durch das Naturschutzgebiet auf die Rocking Horse Road zurückbrachte. Er kam so nahe an Matt vorbei, daß der seine Schritte und seinen schnellen Atem hören konnte. Matt wartete ein paar Minuten, bis Mr. Asher weit genug entfernt sein mußte, und eilte dann zum Wasser. Aber er konnte nichts Ungewöhnliches feststellen. Was immer Mr. Asher in den Kanal gesetzt haben mochte, war von der Strömung in Verbindung mit der leichten Landbrise weggetragen worden.
In den folgenden Monaten wurde Mr. Asher mehrfach in den Dünen gesehen, immer nach Einbruch der Dunkelheit und fast immer am Südende von The Spit beim Kanal oder auf dem Weg dorthin. Oft trug er einen Gegenstand bei sich, der in ein Handtuch gewickelt war. Aber in dieser Neujahrsnacht, in den ersten Stunden des Jahres 1981, wußten wir nur das, was Matt berichtet hatte. Als er zu uns zurückkehrte, war das Feuer niedergebrannt. Wir stocherten mit langen Stöcken in der Glut und lauschten Matts Geschichte. Wir dachten daran, wie Mr. Asher bei der Beerdigung scheinbar unbewegt über die Köpfe der Menge hinweggestarrt hatte. Doch wir konnten kaum mehr unsere Gedanken ordnen. Es war fast zwei Uhr, und wir fühlten uns von Bier und Müdigkeit reichlich benebelt.
Bevor wir auf brachen, erzählte uns Jase Harbidge noch, daß die allermeisten Opfer ihre Mörder gut kannten. Deshalb begann die Polizei ihre Untersuchungen immer bei dem Ehemann oder dem Freund des Opfers. Oder beim Vater. Damit lagen sie, so sagte er über die Asche des alten Jahres hinweg, selten falsch.
Wer also hat Lucy Asher ermordet? Das war die Sechsmillionendollarfrage. Sie summte den ganzen Sommer über in unseren Ohren wie eine Schmeißfliege. Ihr Gebrumm störte uns den ganzen Tag über. Wie in einer Klassenarbeit gingen wir ständig die drei Ws durch: Wer? Was? Warum? Und die Polizei wußte noch nicht einmal, wo. Pete hatte recht gehabt, als er sagte, Lucy sei nicht am Strand ermordet worden, zumindest nicht dort, wo er sie gefunden hatte. Jases Vater zufolge hatte die Polizei noch immer nicht herausgefunden, wo Lucy überfallen worden war oder wo man sie ins Wasser geworfen hatte. Man hatte jedoch den Verdacht, daß es irgendwo in der Nähe des Kanals geschehen sein
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