Römer im Schatten der Geschichte
einer Welt voll möglicher und tatsächlicher Veränderungen. Ihr Schicksal konnte sich zum Besseren oder Schlechteren wenden. Die natürliche Reaktion auf das Leben in einer Welt unbeherrschbarer physischer und sozialer Bedrohung des Überlebens – und des Glücks – war Besorgnis und, so möglich, Aktivität. Angesichts der unterschiedlichen Machtverteilung,der stark hierarchischen Sozialstruktur und der Unberechenbarkeit von Witterung, Gesundheitszustand und Naturkatastrophen vertraute das Volk auf Möglichkeiten jenseits der Ratio, wenn es darum ging, die Zukunft vorauszusagen und sie solchermaßen zu bewältigen. Zwar nutzte auch die Oberschicht Traumdeuter und Astrologen zur Lösung ihrer Probleme, doch spiegelt sich sowohl im
Carmen Astrologicum
als auch in Artemidors
Traumbuch
eindeutig das Denken ganz gewöhnlicher Männer und Frauen.
Als nützliches Mittel zum Umgang mit Lebensfragen bieten diese Handbücher wertvolle Einblicke in die alltäglichen Sorgen der Menschen. Das beherrschende Thema beider Werke sind – wenig überraschend – die Launen des Schicksals. Die Ratschläge, Deutungen und Voraussagen enthüllen Entscheidendes für Erfolg oder Scheitern und umfassen Themen wie Tod, Krankheit, Finanzprobleme, Ehe und Familie und Gefahren beim Reisen. Sie betreffen ferner die Gewalt im Alltagsleben, gespannte zwischenmenschliche Beziehungen und Rechtsgeschäfte. Der Schwerpunkt liegt auf den kleinen Problemen des täglichen Einerlei; bemerkenswert wenig Aufmerksamkeit erhalten Ereignisse, die man »große« Katastrophen nennen könnte. Bei Artemidor findet sich ein einziger Hinweis auf »das Herannahen von Feinden, Unfruchtbarkeit und Hungersnot« (
Traumbuch
2,9). Die Vorgänge, die im Zentrum der Geschichtsschreibung standen – Kriege und Gerüchte über Kriege, Katastrophen und politische Manöver der Elite – beschäftigten die Normalbevölkerung wenig oder gar nicht.
Einblicke erlauben des Weiteren die magischen Papyri. Der Tod, im
Traumbuch
das durchgehende Thema, wird dort kaum erwähnt. Dem Sensenmann kann Zauber offenbar nichts anhaben, es sei denn indirekt, durch Heilung von Krankheiten. Auch Familienbeziehungen, die bei Artemidor häufig Thema sind, finden in den Anrufungen der Papyri bis auf gelegentliche Verweise kaum Erwähnung. Im Übrigen werden im
Carmen
und in den Traumdeutungen Artemidors häufig dieselben Probleme aufgegriffen wie in den magischen Papyri: Krankheit und finanzieller Erfolg, Erfolg in Rechtsstreitigkeiten und die Stellung des Einzelnen in den Augen der anderen. Zusammen vermitteln die drei Quellen einen guten Eindruck von den Alltagssorgen des durchschnittlichen Römers.
Obwohl Freud und Leid ungleich verteilt und weit mehr Schlimmes als Gutes zu erleben ist, findet sich hie und da auch die Erwähnung freundlichen Geschicks. Das
Carmen
nennt als gutes Geschick: »Reichtum und Preis« für Männer, »wohlhabend, reich, mächtig in Geschäften, groß im Wohlergehen, im Besitz von Ansehen und Vermögen und es vermehrend«, »Vermögen, Ansehen, Lob, Preis und ein guter Lebensunterhalt«. Auch wenn es scheinen könnte, als seien damit mehr die Gipfelpunkte eines normalen »guten Geschicks« beschrieben als die Erfahrungen der meisten, so darf man
mutatis mutandis
doch annehmen, dass auch für den gewöhnlichen Zeitgenossen ein gewisser Wohlstand, geschäftliche Erfolge und gutes Ansehen bei Nachbarn, Freunden und Partnern ein »gutes Geschick« darstellte. An anderer Stelle sind im
Carmen
als gutes Geschick für Männer auch eine schöne und treue Gattin, gute Freunde und Sieg über die Feinde erwähnt, für Frauen eine gute Gesundheit und ein makelloser Ruf. Auf all das setzt wohl jedermann seine Hoffnungen, aber die Literatur der Zukunftsdeutung verbreitete sich weit mehr über die Möglichkeiten, dass solche Guttaten des Schicksals in dieser oder jener Hinsicht ausbleiben. Was nicht überrascht, denn »Menschen ohne Sorgen bedürfen nicht der Weissagekunst« (
Traumbuch
3,20).
Die größte Sorge gilt dem Tod. Das
Carmen
enthält eine lange Liste von – fast immer qualvollen – Todesarten; der Tod wird auch in anderem Zusammenhang mehrfach erwähnt. Bei Artemidor sind Tod, Kummer und Trauer die Ereignisse, die mit Abstand am häufigsten genannt werden. Es kann sich um den eigenen Tod handeln oder um den eines nahestehenden Menschen, eines Familienangehörigen oder Freundes. Die Allgegenwart des Todes als beherrschende Quelle menschlicher Kümmernisse ist
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