Römer im Schatten der Geschichte
bekanntmachen wollte. Familiäre Beziehungen mit Erwähnung der Verwandtschaft in Weihungen und der Ausdruck von Furcht und Hoffnung in Grabinschriften sind nur zwei Beispiele. Und die Graffiti vonPompeji, die dem epigraphischen Nachlass dieser Bürger Vielfalt und Würze geben, liefern uns wertvolle Hinweise auf ihr Denken und Empfinden.
Aus den Papyri spricht wie aus den Inschriften die Stimme der Unsichtbaren. Papyrus war in der römischen Welt als Beschreibstoff weit verbreitet, aber nur wenige Orte waren trocken genug, um seinen Erhalt über die Jahrhunderte zu sichern. Die Herkunft der Papyri ist darum geographisch einseitig ausgerichtet, denn sie stammen fast sämtlich aus den Wüstengebieten Ägyptens und aus einigen anderen Teilen des Nahen Ostens. Daraus ergibt sich natürlich die Frage, ob papyrologische Belege auch für Gebiete außerhalb Ägyptens gelten können. Früher war eine solche Verwendung durch die Historiker wegen Ägyptens Ausnahmestellung in der soziopolitischen Landschaft der römisch-griechischen Welt weithin verpönt. Doch in dieser Diskussion, die einst abgeschlossen schien, erfolgte jetzt eine Wende um 180 Grad. Die Vorstellung, dass Ägypten eine Welt für sich darstellte und in den Diskussionen über den Rest der römischen Welt außer Acht bleiben könne, ist inzwischen definitiv überholt. Wie Roger Bagnall und andere schlüssig beweisen, waren die Verwaltungspraxis und die Verwendung von Dokumenten in Ägypten und außerhalb der Provinz im Wesentlichen gleich, so dass Verhaltensweisen und Einzelheiten als repräsentativ auch für andere Gebiete des Reiches gelten können.
Papyrus war ein relativ preisgünstiges Schreibmaterial. Es diente allgemein zur Aufzeichnung von Aktivitäten der Regierung (Steuerwesen, Volkszählungen, interne Korrespondenz) sowie von Quittungen, Verträgen und anderen Finanzbelegen. Hinzu kommt eine ansehnliche Zahl von Privatbriefen, literarischen Texten und Unterrichtsmaterial. Natürlich ist von diesen Dokumenten schon seit langem fast nichts mehr erhalten. Doch das, was an Briefen und privaten Dokumenten noch vorliegt, stammt in den meisten Fällen von Unsichtbaren dieser Region, von Männern, aber auch von Frauen – ein besonders überraschendes und erfrischendes Element. Oft lässt sich nicht feststellen, ob ein solches Dokument vom Urheber oder von der Urheberin eigenhändig geschrieben wurde – häufig nahm man professionelle Schreiber und des Schreibens kundige Sklaven in Anspruch –, doch die Herkunft der Zeugnisse aus dem Kreis der normalen Bürger ist offenkundig. Die erhaltenen Regierungsdokumente, die die große Mehrheit der Papyri aus der frühen Kaiserzeitausmachen, liefern eine Vielfalt nützlicher Informationen, von Zensuszahlen und anschließenden Extrapolationen bis zu den wahrscheinlichen Gemeinkosten der Regierung, die sich direkt auf Verhalten und Ansichten der gewöhnlichen Bürger auswirkten. Wie die pompejanischen Graffiti und in geringerem Ausmaß die Inschriften führen die Papyri das Leben der Unsichtbaren ohne Vermittlung durch die Literatur der Eliten vor Augen.
Das Bild dieses Lebens wird erweitert und vertieft durch die materielle Kultur. In der bildenden Kunst und im Kunstgewerbe hinterlassen sowohl die Schaffenden als auch deren »Leser« ihre Botschaft. Kunst entsteht nicht in einem Vakuum, und die Darstellungen sollen für ihren Schöpfer wie auch für sein Publikum Bedeutung gewinnen. Es müsste darum möglich sein, Kunst auf dieselbe Weise zu »lesen« wie Inschriften, Papyri oder literarische Texte. Zur Lektüre bietet sich eine Fülle von Material an: Bilder auf Grabsteinen, Graffiti-Zeichnungen, Wandmalereien in Gebäuden und Räumen, die für die Unsichtbaren bestimmt waren, Bilder auf Tafelgeschirr aus gebranntem Ton wie Terra Sigillata – all das kann sehr erhellend sein. Ergänzend kann archäologisches Material jenseits der Kunst ebenfalls vieles zu unserem Wissen über die Bürger der Mittel- und Unterschicht beitragen, auch wenn es oft mehr mit Lebensbedingungen und -verhältnissen zu tun hat als mit der geistigen Welt. Im Fall der erwähnten jüdischen Literatur allerdings, das muss ich zugeben, habe ich die Archäologie nicht in dem Maß beigezogen, wie es möglich gewesen wäre. Vielleicht wird ein Kollege, der sich auf diesem Gebiet besser auskennt als ich, in der Lage sein, meine Beobachtungen zu ergänzen oder zu verbessern.
Und schließlich gibt es Belege aus anderen Zeiten und Orten des
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