Römer im Schatten der Geschichte
der Gleichgültigkeit gegenüber der Wirklichkeit unter- oder außerhalb dieser Sphäre.
Wichtige Quellen sind auch Fabeln und Sprichwörter. Sprichwörter sind prägnante Erklärungen, die eine Situation beschreiben oder Anreiz zu direktem Handeln bieten. Sie sind altüberliefert, volkstümlich, anonym und lehrreich und werden im Lauf der Zeiten in wesentlich derselben Form wiederholt. Fabeln sind kurze Geschichten scheinbar einfacher, vertrauter Art, in denen meist Tiere vorkommen; auch sie haben Rat anzubieten, und wie bei den Sprichwörtern ist die Schlüsselfunktion Belehrung. Seit Aristoteles, und vielleicht schon früher, wurden Fabeln als »volkstümliches« Genre betrachtet, weil sie einfach sind und Kinder und Ungebildete ansprechen. Doch Fabeln haben auch eine lange Geschichte der Hochschätzung durch die Elite. Können sie also wirklich als »volkstümlich« gelten? Sowohl Babrios als auch Phaedrus haben die von ihnen gesammelten Fabeln der Elite gewidmet. Auch die Sentenzen des Freigelassenen und Schriftstellers Publilius Syrus fallen in diese Kategorie. Grundsätzlich aber kann die Herkunft des Stoffes, der diesen Gattungen zugrunde liegt, wohl mit Recht als »volkstümlich« bezeichnet werden und damit als bestens geeignet für das vorliegende Projekt.
Diese indirekten Quellen werden durch drei direkte Quellen ergänzt, die der Vorstellungswelt der Unsichtbaren selbst entspringen: literarische Werke von Autoren, die nicht der Oberschicht angehören, die Papyrologie und die Epigraphik. Das Neue Testament enthält die reichste Sammlung von Literatur, die von Unsichtbaren, wie ich sie nenne, geschrieben wurde und deren Anschauungen wiedergibt. In den Evangelien ist die Welt der Bauern dargestellt. Hier gibt es praktisch kein städtisches Leben; es ist eine Welt ohne Mitte, eine Welt der sehr Reichen und sehr Armen, eine Welt kleinbäuerlicher Wirtschaft und Werte. Die Ereignisse und Parabeln sind aus der Perspektive beschränkter Habe, ausgleichender Gerechtigkeit und anderer Aspekte bäuerlichen Denkens dargestellt, wie sich aus dem Vergleichsmaterial schließen lässt. Die Apostelgeschichte und dieEpisteln andererseits führen in eine städtische Welt – in die Provinzstädte und die städtischen Anschauungen des hellenistischen Ostens. Dies ist die Welt eines Strabon oder Dion Chrysostomos. Wenn Paulus oder andere Autoren ihre Einstellung zum Reichtum, zu den Frauen, Sklaven und Armen, zu den hierarchischen Strukturen und zur gesellschaftlichen Elite äußern, kann man sie mit gutem Grund als Zeugen der normalen städtischen Bevölkerung befragen; wesentlich ist dabei allerdings, die Nuancierung ihrer Position durch die theologische Mission im Auge zu behalten. Neben dem Neuen Testament selbst können auch die patristischen Beiträge Material bieten, das allerdings erst nach Konstantin in großem Umfang überliefert ist. Zu bedenken ist auch, dass sich im Christentum zunehmend ein elitäres Denken ausbreitete, das in vielerlei Hinsicht dem der heidnischen Elite gleichkam. Alles in allem jedoch ist die frühchristliche Literatur eine reiche Quelle. Ähnliche Möglichkeiten dürfte die jüdische Literatur eröffnen, denen ich im Rahmen des vorliegenden Projekts allerdings nicht systematisch nachgehe.
Wie das Neue Testament spricht auch das epigraphische Material direkt mit der Stimme gewöhnlicher Menschen. Aber die Situation hat ihre Tücken. Die schiere Fülle an Inschriften erschwert die Untersuchung, denn sie sind unregelmäßig über Raum und Zeit verteilt. Als weitere Schwierigkeit kommt hinzu, dass auch die Entdeckung und Publikation von Inschriften ausgesprochen unübersichtlich ist. Doch selbst ohne Berücksichtigung dieser beiden Punkte bliebe das Problem der ungleichen demographischen Verteilung. Lange, detaillierte Inschriften fallen beinahe ausschließlich in den Wirkungskreis der Elite – Gesetze, offizielle staatliche Inschriften, kunstvolle Epitaphe und so weiter. Inschriften, in denen die Stimme der Unsichtbaren hörbar wird, sind dagegen fast alle sehr kurz und entweder Weihinschriften, Geschenke an die Götter oder Grabinschriften. Einen beschrifteten Grabstein konnte sich selbst eine Person mit sehr bescheidenem Vermögen ohne weiteres erlauben – entweder aus eigenen Mitteln oder vielleicht mit Unterstützung einer Begräbnisgesellschaft. Es gibt zahlreiche Belege für die Darstellung sozialer Verbindungen und Auffassungen, die der normale Bürger der Allgemeinheit
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