Roen Orm 3: Kinder des Zwielichts (German Edition)
zu unterdrücken. Er konnte nicht mehr. Jämmerliche, unerträgliche Angst vor dem Tod, vor noch mehr Schmerzen schüttelte ihn durch.
„Bitte …“, wimmerte er, die Lider fest zusammengepresst, und hasste sich selbst dafür. „Lasst mich nicht länger warten. Tut es einfach, bitte!“
Thamar beobachtete den jungen Priester, seinen stillen Kampf gegen die Ohnmacht und Todesangst. Bewundernswert, wie viel Kraft in diesem offensichtlich halb erfrorenen, völlig erschöpften Mann steckte, welch ein Mut! Nichts von dem, was er hier sah, konnte er begreifen. Ein Priester aus Roen Orm, barfuß, in lächerlich dünner Robe, war aus dem Nebel aufgetaucht. Nicht auf der Flucht, nicht, um eine Hexe zu verfolgen. Magisch vollkommen ausgelaugt. Thamar hatte zu oft gesehen, wie sich Hexen bis zum Zusammenbruch getrieben hatten, um die Zeichen nicht zu erkennen. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, er würde glauben, der Priester hätte die Nebelpfade allein geöffnet. Aber das war unmöglich, oder? Wenn wenigstens Maondny oder Inani mit ihm sprechen würden! Doch diese Hoffnung war von Anfang an gering gewesen. Maondny würde nur mit ihm reden, falls es dringend notwendig war, und Inani müsste von sich aus an ihn denken, sobald er nach ihr rief. Er besaß nun einmal keine eigene Magie.
Was er in dem jungen Geweihten sah, erschütterte ihn mehr, als er sich selbst eingestehen wollte. Die Sonnenpriester von Roen Orm waren arrogant, davon überzeugt, Diener der einzig wahrhaftigen Macht zu sein. Wer sie auch nur unfreundlich anstarrte, riskierte Bestrafung. Dieser Junge stammte aus der Hauptstadt, sein Akzent ließ keinen Zweifel daran. Bloß, wo war die Arroganz? Die Empörung? Warum fluchte er nicht, beschimpfte Thamar als Frevler, als Gotteslästerer, verlangte, sofort frei gelassen zu werden? Woher stammte diese Verwirrung, die hoffnungslose Verzweiflung, die beinahe mit Händen zu greifen war?
Beinahe zärtlich zwang Thamar seinen Gefangenen, zu ihm aufzusehen. So viele Emotionen flackerten in den unsteten Blick: Wut, Qual, Angst, Flehen, Verständnislosigkeit … Der Blick eines Opfers.
Er konnte es nicht ertragen. Wie bloß war so etwas möglich? Ein Priester aus Roen Orm als hilfloses Opfer? Als Unschuldiger in seiner Gewalt?
Eine Erinnerung stieg hoch, die Thamar schon lange verloren geglaubt hatte.
„Warum nur, Ilat? Warum beendest du es nicht? Hör auf!“
„Wozu? Es macht Spaß! Wenn die Rollen vertauscht wären, würdest du es doch auch genießen!“
„Nein!“
„Sag nicht nein. Natürlich, wir werden es nie herausfinden, nicht wahr? Aber ich wette, wenn du hier vor mir stehen würdest und ich das unschuldige Opfer in deiner Gewalt wäre, du hättest genauso viel Spaß wie ich. Du würdest tun, was immer dir in den Sinn kommt. Einfach nur, weil du es kannst und niemand da ist, dich zu hindern. Es steckt in uns, Bruder. Wir sind Menschen, und Menschen tun so etwas.“
Thamar biss sich auf die Lippen. Ob der Priester dasselbe fühlte wie er selbst damals? Der bloße Gedanke machte ihn krank!
Nicht in jedem von uns steckt ein Monster, Ilat.
Entschlossen reckte er sich und durchtrennte die Fesseln des Geweihten. Lieber ließ er sich zu Asche verbrennen, als einen möglicherweise Unschuldigen zu quälen!
Der junge Mann sackte stöhnend in sich zusammen, Thamar fing ihn überrascht ab, damit er nicht im kalten Matsch landete. Er musste in wahrhaftig schlechter Verfassung sein, so rasch fiel ein Ti-Geweihter gewöhnlich nicht bewusstlos nieder. Innerlich zerrissen hielt Thamar die zitternde, fast ohnmächtige Gestalt an sich gedrückt, bis er spürte, dass der Priester sich regte. Sofort, als Thamar ihn losließ, wich er vor ihm zurück und presste sich gegen den Baumstamm in seinem Rücken. Der junge Mann hielt die Augen weiter geschlossen, offenkundig von starken Schmerzen gequält.
„Lass es mich nicht bereuen, ja?“, sagte Thamar leise. Er wartete geduldig, dass sich der rätselhafte Fremde wieder in den Griff bekam. Oh ja, er konnte zumindest teilweise verstehen, wie es ihm erging. Er wusste, wie es war, wenn man fest mit dem Tod gerechnet hatte und plötzlich befreit wurde.
Sein Blick fiel auf die blutigen Hände des Geweihten, dessen Kampf gegen die Fesseln tiefe Schürfwunden gerissen hatte.
Thamar fühlte sich nicht schuldig deswegen, aber möglicherweise würde er weiter kommen, wenn er eine Geste der Menschlichkeit zeigte?
„Darf ich das mal sehen?“, fragte er, griff nach den Armen des
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