Roen Orm 4: Herrscher der Elemente (German Edition)
behutsam über den Schnitt an seiner Wange.
„Es ist nichts, ein Kratzer“, stammelte er, erschüttert von der Wut, die er in ihr spürte. Wut, die nicht gegen ihn, sondern gegen seine Widersacher gerichtet war.
„Für deine Haut ist es nur ein Kratzer, ja. Etwas, das heilen wird, ob mit oder ohne Narbe. Ein bisschen Schmerz, der leicht auszuhalten ist. Aber es ist noch mehr, Eiven. Es ist ein Zeichen, dass sie dich quälen durften. Sie hätten alles mit dir tun dürfen, dieser Schnitt wäre nur der Anfang gewesen, ohne Triyak und das Flügelpferd.“
„Sie sind nicht grausam“, murmelte Eiven, bemüht, sein Volk zu verteidigen. „Es gibt Gesetze.“ Er wusste, dass diese Gesetze ihn nicht geschützt hätten. Vor Folter vielleicht, doch nicht vor dem Tod.
„Sie sind grausam. Die Loy wie auch ihre Gesetze“, sagte Avanya fest. „Aber wenigstens verstecken sie das nicht, wie die Nola. Deine Leute sind grausam zu ihren Feinden und allen Schwachen. Meine Leute sind gleichgültig zu ihren Familien und höflich zu jenen, die sie nicht besiegen können. Ein besiegter Feind braucht auf keine Gnade zu hoffen, muss allerdings keinen Schmerz fürchten.“ Sie schluchzte unterdrückt auf. „Bei meinem Volk geht es nur um die Gruppe als solche, jeder muss gehorchen, der Einzelne bedeutet nichts. Einen eigenen Willen darf man nur haben, wenn alle Pflichten und Aufgaben erfüllt sind und man nichts tut, was anderen schaden könnte. Ich war immer eine Außenseiterin, weil ich gerne in der obigen Welt gewandert bin, Menschen belauscht, Roensha gelernt habe. Man hat es mir erlaubt, weil es einen möglichen Nutzen für die Gemeinschaft besaß.“
„Avanya …“ Hilflos streichelte er über ihr wirres Haar und rang vergeblich um Worte.
„Ich liebe mein Volk, Eiven. Trotz all ihrer Grausamkeit und ihrer Gesetze, die keine Ausnahmen, keinen Ungehorsam erlauben, trotz ihres Glaubens, dass sie besser und zivilisierter sind als alle anderen Rassen, ich liebe sie. Und ich hasse sie. Über dein Volk weiß ich nicht genug, aber was ich erfahren habe, hasse ich, und ich liebe es. Diese Bussarde hatten das Recht, dich zu quälen, nur weil du auf dem falschen Fleck Waldboden gestanden hast. Meine Familie hatte das Recht, mich zu verstoßen, nur weil ein gutherziger Krieger sich um meine Verletzungen kümmern wollte, die er mir nicht einmal selbst zugefügt hat.“ Sie tastete vorsichtig über die Ränder der Wunde, die Lishars Speer an seiner Brust verursacht hatte, hielt jedoch sofort inne als sie spürte, wie er sich unter ihren Fingerspitzen anspannte. „Niemand aber, am allerwenigsten jemand aus deiner eigenen Sippe hatte je das Recht, dich so zu verletzen, dass du anschließend die Berührungen eines Freundes fürchten musst“, wisperte sie und suchte offen seinen Blick.
Eiven konnte und wollte ihr nicht ausweichen. Er verstand dieses wundersame Geschöpf nicht, das so zerbrechlich und doch so stark war, so tief verwundet und doch so heiter und gelassen. Avanya versteckte ihren Schmerz nicht hinter einer Maske von Unerschütterlichkeit, wie Roya, sondern litt offen, und versuchte gleichzeitig, seinen Schmerz zu lindern.
Bevor er begriff, was seine Hände vorhatten, hob er bereits Avanyas fremdartig schönes Gesicht an und strich mit den Daumenkuppen über ihre Tapras. Ihre Haut war weich und warm wie ein Blütenblatt. Alles an ihr erinnerte an eine Blume. Oder mehr noch an einen jungen, biegsamen Baum. Wie die Weide, schlank und zart und trotzdem erfüllt von Kraft.
„Ich habe nachgedacht“, flüsterte er heiser. „Meine Mutter hat mich nicht oft in ihrer Nähe geduldet, konnte es allerdings nicht immer verhindern. Ja, du hast Recht, Avanya. Loy haben ähnliche dunkle Hautfärbungen an Stirn, Schläfen und Hals, so wie du. Es fällt nur nicht so auf.“
Sie kam ihm halb entgegen, suchte den Kuss nicht weniger verzweifelt als er selbst. Eiven staunte über die Süße, die Zartheit ihrer Lippen, über das innige Gefühl der Geborgenheit, das ihn durchströmte. Nähe, die er niemals gekannt hatte. Nähe, die jeden Widerstreit in ihm zum Schweigen brachte. In diesem Gefühl verlor er sich, für lange Zeit, unfähig, etwas anderes wahrzunehmen als Avanya, die warm und lebendig in seinen Armen lag.
Als sie sich atemlos trennten, konnten sie beide nicht sprechen, umarmten sich nur, voller Angst, es könnte nur ein Traum gewesen sein, ein Irrtum, ein Versehen.
„Können sie sich so geirrt haben?“, fragte Avanya
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