Roen Orm 4: Herrscher der Elemente (German Edition)
Baumstamm.
„In die Abgründe mit diesem sturen Steinkopf von Loy!“, knurrte sie wütend.
„Maulwürfe klettern nicht auf Bäume“, fuhr sie halblaut fort und musterte den Stamm von oben bis unten. Kalte Schauder jagten über ihren Rücken. „Heißt nicht, dass sie es nicht könnten, wenn sie wirklich müssten. Sie tun’s nur einfach nicht.“ Mit diesen Worten umklammerte sie einen tiefhängenden Ast und zog sich in die Höhe. Sie war selbst überrascht, wie leicht es ihr fiel, ihre Arme waren stark genug, sich rasch nach oben zu arbeiten, und es war dunkel genug, dass sie sich einreden konnte, der Boden wäre ganz nah. Entschlossen kämpfte Avanya sich bis hinauf zu dem Ast, auf dem Eiven sich niedergelassen hatte. Der junge Loy hatte nichts von ihrer Annäherung bemerkt, so versunken war er in seine eigenen Gedanken. Er verlor beinahe das Gleichgewicht, als sie ihn plötzlich ansprach.
„Avanya? Aber was machst du denn hier oben?“
„Zu dir kommen!“, zischte sie und klammerte sich leicht panisch an den Hauptstamm des Baumes, unfähig, sich zu Eiven hinüberzuschwingen. „Und erwähne bitte nie mehr ein Wort, das mich daran erinnert, nicht auf festem Boden zu stehen, verstanden?“
„Bei allen Sternen und Sturmwinden, sind Nola immer so starrsinnig?“, fragte Eiven verblüfft. Er bot ihr die Hand zur Hilfe, doch als er sah, dass sie bewegungsunfähig feststeckte, weder hinauf- noch runter konnte, packte er sie kurz entschlossen, riss sie gewaltsam von ihrem Platz los und trug sie zurück zum Boden. Er spürte, wie sie zitterte und drückte sie fest an sich. Es fühlte sich gut an, jemanden im Arm zu halten, besser, als er sich je erträumt hatte.
„Warum kletterst du auf einen Baum, wenn du solche Höhenangst hast?“, fragte er, schwankend zwischen Lachen und Ärger.
„Damit du mit mir reden musst“, fauchte sie, schlug gegen seine Schultern, klammerte sich dann aber hastig an ihn, obwohl sie längst in Sicherheit war. „Oder hast du mein zartes Stimmchen einfach nicht gehört, so hoch in deinem luftigen Nest?“
„Doch! Selbstverständlich habe ich dich gehört, ich wusste nur nicht, was ich sagen sollte.“ Eiven setzte sich bequem zurecht und lehnte sich gegen den Baum. Es überraschte ihn, dass Avanya sich immer noch an ihn drückte, seine Umarmung zu suchen schien. Ihr ruhiger Herzschlag verriet, dass sie sich von ihrem Schreck erholt hatte. Sollte er sie von sich schieben? Eigentlich fühlte es sich viel zu gut an, ihre Nähe und Wärme zu spüren …
„Ich hatte solche Angst um dich, Avanya“, bekannte er zögerlich. „Angst, sie könnten dir etwas Ähnliches antun wie es meiner Mutter widerfahren ist … oder mir.“ Scham brannte heiß in seinem Inneren, kaum erträglicher Schmerz einer Wunde, die noch viel zu frisch war. Niemals hatte Eiven darüber sprechen wollen, niemandem von dieser Schande erzählen, aber diese Nola hatte eine ganz eigene Art, seine innere Abwehr zu stürmen. Er wartete regelrecht auf Avanyas Abscheu, dass sie von ihm abrückte, ihn nie wieder berühren wollte, ihn, der so entehrt und beschmutzt worden war. Erstaunlich, wie sehr dieser Gedanke schmerzte. Doch wie schon zuvor weigerte sich dieses seltsame Wesen, seiner finsteren Erwartung gerecht zu werden; stattdessen schlang sie die Arme nur noch nachdrücklicher um ihn.
„Ich hasse sie“, flüsterte sie an seiner Schulter. Sie saß auf seinen Schenkeln, und in dieser Haltung war der knappe halbe Schritt Größenunterschied zwischen ihnen weniger bedeutsam. Eiven, der nie berührt worden war, außer, um bestraft oder fortgestoßen zu werden, fühlte sich regelrecht zerrissen. Ein Teil von ihm genoss diese Nähe so sehr, dass er Avanya nie wieder loslassen wollte. Ein anderer Teil fühlte sich unbehaglich und wollte irgendwo sein, egal wo, nur nicht hier. Ein dritter Teil fürchtete, dass sie ihn nur mit Freundlichkeit locken wollte, um anschließend noch härter und grausamer zuschlagen zu können.
„Ich hasse diejenigen, die dir das angetan haben, Eiven. Es gibt kein Wort in Nileri oder Roensha, das meinen Hass wirklich ausdrücken kann.“ Sie hob den Kopf und blickte zu ihm hoch. Sie schimmerte wie schon zuvor von innen heraus, stark genug, dass er die zornigen Tränen auf ihren Wangen erkennen konnte. „Ich hasse sie. Ich hasse Lishar für den Schmerz, den er dir zugefügt hat, und diesen anderen Loy, der meinte, dein Gesicht zerschneiden zu dürfen.“ Sie streckte sich und fuhr
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