Roen Orm 4: Herrscher der Elemente (German Edition)
schließlich leise. „Die Überlieferungen, meine ich. Können sie alle falsch sein? Nola wie Loy glauben doch fest daran, dass es zwischen uns nur Feindschaft, Verachtung und Hass geben kann.“
Eiven zuckte die Schultern. „Du hast Lishars Worte gehört. Wie nannte er dich? Arg klein geraten und bleich wie … egal.“ Er grinste schief. „Meiner Meinung nach leidet er an einem bedauerlichen Sehfehler. Meiner Meinung nach ist es völlig gleichgültig, was irgendwelche Überlieferungen und Legenden behaupten. Vielleicht sind wir beide, du und ich, Ausnahmen. Oder Verrückte. Meiner Meinung nach können sich darüber Leute Gedanken machen, die mehr Zeit haben als ich.“ Er begann, jedes winzige Tapra auf Avanyas Stirn einzeln zu küssen, überrascht davon, wie richtig es sich anfühlte, und wie leicht es war. Wie sich Avanya an ihn schmiegte und sich nicht im Geringsten von ihm abgestoßen fühlte. Sie brachte die Scham und jegliche Angst in ihm zum Schweigen. „Mir ist es egal, ob du hell oder dunkel, Loy oder Nola bist. Du bist mir nah, das reicht als Antwort“, flüsterte sie. Sie schloss vertrauensvoll die Augen. „Wenn die alten Legenden nicht mehr ausreichen, wird es wohl Zeit für neue“, sagte sie voller Wärme und gab sich seinem Kuss hin.
10.
„In den Waldgebirgen leben Menschen, die eine seltsame Art waffenlosen Raufkampfes pflegen. Ti’qua nennen sie, was wie ein harmloser Tanz aussieht, doch durchaus tödlich ist. Mit gezielten Schlägen und Tritten können die Kämpfer ihren Gegner lähmen oder schwer verletzen. Es scheint mir allerdings, diese Kunst dient eher der körperlichen Ertüchtigung und als Vorbereitung auf den Waffenkampf und die Jagd, denn im Kriegsfall nutzen diese Menschen Speere, Pfeil und Bogen.“
Keran von Brawinma, „Von Krieg und Waffen“, Standardwerk
Inani lächelte in hunderte von Gesichtern. Roen Orms Hochadel hatte sich versammelt, um die Fremde anzugaffen, die so vollkommen überraschend als Verlobte des Königs präsentiert worden war.
„Waldgebirge … genauso sieht sie aus, wie eine Wilde!“
„Man sagt, ihre Familie hätte Ilat eine Mitgift versprochen, die dem Gesamtwert von Roen Orm in Edelsteinen entspricht!“
„So viele Diamanten und Rubine gibt es in ganz Enra nicht, aber ICH habe gehört, dass tausend unbesiegbare Krieger in ihrem Gefolge sein sollen.“
„Wozu brauchen wir Krieger, wir haben selbst die beste Armee der Welt. Nein, ich denke, es steckt ein ordinärer Liebeszauber dahinter.“
„Sie soll kein einziges Wort unserer Sprache verstehen, kannst du dir das vorstellen?“
„Sie ist schön, ich würde sie auch gerne …“
Inani versteckte ihr amüsiertes Lachen hinter ihrem riesigen Fächer aus Paradiesvogelfedern. Es war so unglaublich wohltuend, endlich wieder in Roen Orms intrigantem Adelspulk mitmischen zu dürfen! Jedes Detail ihrer reich verzierten Garderobe war sorgsam durchdacht, von den schweren goldenen Ohrgehängen über die langen Schmuckstäbe, die ihr aufgetürmtes Haar zusammenhielten, der Hauch von halbdurchsichtigem Nichts, der ihren Körper in farbenfrohen Schleiern umhüllte, bis hinab zu den Juwelen, die ihre bloßen Füße zierten. Alles stellte Reichtum, Schönheit und fremdartige Macht zur Schau, um jene zu blenden, die nichts anderes sehen wollten.
Sie saß sehr aufrecht auf einem unbequemen Stuhl zu Ilats Linken, der sich entspannt in seinem Thron zurücklehnte und das Spiel in vollen Zügen ebenso genoss wie sie. Erst, wenn Inani gekrönt wurde, durfte sie auf dem verwaisten Königinnenthron Platz nehmen.
Musik spielte auf, doch Ilat winkte ungeduldig, und verunsichert ließen die Musiker ihre Instrumente sinken.
„Meine Verlobte hat eine Spielerin in ihrem Gefolge, ich bin sicher, sie verzehren sich beide danach, Roen Orm zu zeigen, wie man in Kashuum tanzt“, verkündete der König. Inani schenkte ihm ein gereiztes Lächeln, verborgen hinter dem Fächer.
„Ich habe keine Spielerin dabei!“, flüsterte sie ihm zu.
„Sind Hexen nicht dafür bekannt, überall auftauchen zu können?“, erwiderte er grinsend. „Na los, ruf eine deiner finsteren Schwestern her, die dich unterstützen kann, ich will dich tanzen sehen. Oder überfordert das deine Kräfte?“
„Sei vorsichtig, Ilat, du weißt nicht, wen oder was ich alles rufen kann.“
Mit diesen fast lautlos gewisperten Worten erhob sie sich, und verließ unentwegt lächelnd den Ballsaal.
„Hast du
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