Roen Orm 4: Herrscher der Elemente (German Edition)
hoffnungsvolle Visionär? Der lebensfrohe, weitsichtige Rynwolf, der sich für alles begeistern konnte? Der jeden Teil der Schöpfung liebte? Wie viele Hexen hat man dir befohlen zu foltern und in Stücke zu reißen, wie viele unschuldige Leben musstest du opfern, bis diese Liebe in dir gestorben ist? Seit wann bist du dieser verbitterte Zyniker? Ah, warum bin ich nach Barrand gegangen? Hätte ich dir hier in Roen Orm zur Seite stehen sollen, um dich retten zu können?
Cero folgte seinem Onkel stumm in das Tempelheiligtum. Der riesige Saal war bereits erfüllt mit hunderten von Adligen und reichen Bürgern, während die weniger gut gestellten Bewohner Roen Orms sich im Innenhof sammelten. Rynwolfs Stimme würde bis zu ihnen dringen, das wussten sie, deshalb nahmen sie diese Beschränkung geduldig hin. Cero erinnerte sich an früher, als er ein kleiner Junge gewesen war und an den hohen Festtagen zuhause bleiben musste, weil es regelmäßig zu schweren Ausschreitungen unter den Armen kam, die auch in den Tempel wollten und nicht durften. Rynwolfs Luftmagie garantierte Frieden in dieser Stadt.
Ilat und seine engsten Berater saßen in den ersten Reihen. Obwohl es kaum eine Stunde her war, seit Cero mit dem König über Kriegsschiffe und Strategien gesprochen hatte, war Ilat seitdem scheinbar um Jahrzehnte gealtert. Bleich und angespannt saß er da, sein Blick hing wie gebannt an Rynwolf. Also wusste er, dass die Dokumente und damit sein einziges Druckmittel auf Rynwolf verloren waren.
Cero nickte seinen Gefolgsleuten zu. Er war nicht eingeweiht worden, was Rynwolf genau plante, was Ilat plante, wie beide jeweils reagieren würden, aber dieser Gottesdienst würde gewiss nicht der friedlichen Anbetung Tis gewidmet werden.
„Wen beschützen wir, Herr? Den König oder den Erzpriester?“, wisperte sein Hauptmann.
„Rynwolf, es hat sich nichts geändert“, erwiderte Cero bestimmt. Noch nicht …
Der Gottesdienst begann, mit Liedern und Gebeten. Angespannt wartete Cero auf den Moment, wo die Verkündung beginnen würde, jener Teil der Messe, in dem der leitende Priester aus heiligen Schriften lesen oder von Tis Wundern berichten würde. Was auch immer Rynwolf vorhaben mochte, es würde geschehen, sobald er sich der Menschenmenge zuwandte und vor ihr niederkniete, zum Zeichen, dass er, der höchste Führer der Ti-Kirche, demütiger Diener der Gläubigen war.
„Meine Brüder und Schwestern im Geiste, lasst mich von Tis Weisheit künden“, begann Rynwolf mit magisch verstärkter, weit tragender Stimme.
„Wir hören deine Worte“, erwiderte die Menge mechanisch.
„Meine Brüdern und Schwestern, ich muss euch berichten, dass ich, euer Führer in Tis Namen, mich geirrt habe.“
Tiefes Schweigen senkte sich über Tempel und Vorplatz. Nervös lockerte Cero sein Schwert – egal, was nun folgen mochte, es war Chaos zu befürchten.
„Wie mein Vorgänger im Amte war ich fest davon überzeugt, dass es keine Dunklen Töchter der Pya gibt, lediglich von Ti abgefallene Frauen, verführt vom Finsterling. Dies war ein Irrtum. Es gibt sie, die Hexen, es gibt sie wahrhaftig. Was über unsere Stadt gekommen ist, das waren die verderbten Töchter Pyas. Die Toten, die wir beklagen müssen, die Verwüstung des Königspalastes, all dies war kein Zufall.“
Rynwolf erhob sich, das Gesicht von Kummer zerfurcht.
„Ihre Majestät Ilat, unser geliebter König, wurde von Hexen verführt. Ich fürchte um sein Heil.“
Ilat erhob sich langsam und näherte sich dem Altar. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, von seiner Reaktion hing nun alles ab – würde es zu Ausschreitungen kommen? Vielleicht sogar zu offenen Kämpfen? Er wirkte unbeteiligt, beinahe, als ginge ihn das alles nichts an.
„Du hast also beschlossen, dass ich als König nicht mehr länger tauglich bin?“, fragte er, ohne sich abzumühen, laut zu sprechen. Rynwolfs Magie trug seine Worte noch in die hintersten Winkel von Roen Orm.
„Ihr seid vom Finsterling besessen und von seinen Huren missbraucht, Ilat. Unterwerft Euch der Priesterschaft, wir können Euch zurück zum Licht führen.“
Cero erschauderte vor dem, was er in Rynwolfs Gesicht las. Sein Onkel war entweder der begnadetste Lügner unter Tis Sonne, oder er glaubte tatsächlich an das, was er sagte. Das tiefe Bedauern, die aufrichtige Sorge, all das konnte doch nicht gespielt sein!
„Und wenn ich sage, dass niemand mich missbraucht hat, abgesehen von den Sonnenpriestern, dies allerdings nicht im Bett,
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