Röslein stach - Die Arena-Thriller
– er geht durch Katies Zimmer. Man kann eure Stimmen hören.«
9.
An den Vormittagen war Antonia allein im Haus, denn sie war die Einzige, die Ferien hatte. Katie musste um neun Uhr bei der Arbeit sein und Matthias besuchte vor den Semesterferien noch ein paar Kurse an der Uni. Nur Robert konnte ebenfalls etwas länger schlafen, er verließ das Haus meist kurz nach zehn, um das Essen für die Senioren bei der Großküche abzuholen.
Antonia hatte sich fest vorgenommen, in den Ferien zu lernen. An ihrer alten Schule hatte sie zwar immer gute Noten geschrieben, aber sie war mangels Abwechslung auch recht fleißig gewesen. Das Gymnasium war jedoch bestimmt anspruchsvoller, jedenfalls wollte sie vorbereitet sein. Keinesfalls würde sie ihrer Mutter und vor allen Dingen Ralph den Triumph ihres Scheiterns gönnen. Nein, sie wollte ein gutes Abitur machen, das hatte sie sich zum Ziel gesetzt. Was danach kommen sollte, wusste sie allerdings noch überhaupt nicht. Aber darüber konnte sie sich auch noch in einem Jahr den Kopf zerbrechen. Jetzt war erst mal Mathe angesagt. Nachdem sie sich eine Stunde mit Integralrechnung herumgeschlagen hatte, fand sie, dass sie eine Pause verdient hatte, und fuhr ihren Laptop hoch. Gestern hatte sie ein Foto an ihre virtuelle Pinnwand gepostet, das einen Teil ihres Zimmers zeigte: den alten Schreibtisch und den Balkon mit dem schönen verschnörkelten Geländer. Dazu hatte sie geschrieben: Mein neues Zimmer, endlich wohne ich wieder in der Stadt, juhu!
Achtundzwanzig Leute hatten gefällt mir angeklickt und Kommentare mit guten Wünschen hinterlassen. Ein Mädchen meinte: Sieht ja voll edel aus!
Auch Tante Linda hatte ihr eine Nachricht geschrieben: Habe ich das richtig interpretiert, bist du zu Hause ausgezogen? Dann herzlichen Glückwunsch! Eine gute Entscheidung.
Linda lebte auf Mallorca, wo sie Schmuck herstellte und verkaufte. Antonia hatte sie zum letzten Mal bei der Hochzeit ihrer Mutter gesehen. Sie bedauerte es, dass ihre Tante nicht hier in Hannover wohnte, denn sie verstand sich gut mir ihr. Soviel Antonia wusste, hatte ihre Mutter nur noch ganz selten Kontakt zu ihrer vier Jahre jüngeren Schwester. Sie wäre »zu ausgeflippt«, hatte sie Antonia gegenüber mal bemerkt. Wahrscheinlich steckte Ralph dahinter, vermutete Antonia heute. Womöglich hatte er ihrer Mutter sogar den Kontakt mit ihrer Schwester verboten. Mittlerweile traute Antonia ihm alles zu.
Die Nachricht war erst eine halbe Stunde alt und Antonia sah, dass ihre Tante immer noch online war. Sie chattete sie an.
Lass uns skypen, kam die prompte Antwort, und eine Minute später sah Antonia ihre Tante auf dem Bildschirm. Sie war braun gebrannt, hatte ihre blonden Locken hochgesteckt und an ihren Ohren baumelten Silberreifen, so groß, dass ein Pudel hätte durchspringen können. Sie war das genaue Gegenteil von Antonias Mutter. Sogar über den kleinen Skype-Bildschirm konnte Antonia sehen, wie fröhlich sie strahlte. Antonia selbst besaß keine Webcam, weshalb ihre Tante sie nur hören konnte.
»Hallo, Nichte! Wie geht es dir?«, kam es munter aus dem Kopfhörer. Antonia versicherte, dass es ihr blendend ging, und berichtete von ihrer neuen Wohnung. Linda fragte nach der Adresse, denn sie wollte ihrer Nichte »ein kleines Geschenk« schicken. Bestimmt Schmuck, dachte Antonia erfreut.
»Und wie hat Ralphilein reagiert?«, fragte Linda, nicht ohne eine gewisse Häme. Antonia hatte schon bei der Hochzeit den Eindruck gehabt, dass Linda ihren Schwager nicht besonders gut leiden konnte. Antonia zögerte. Aber schließlich hatte ihre Mutter ihr nicht verboten, mit Linda darüber zu sprechen, also erzählte sie ihrer Tante, wie sie ihre Mutter am Montag vorgefunden hatte.
Lindas Gesicht wurde auf einen Schlag ernst. Sie murmelte einen spanischen Fluch, dann sagte sie: »Danke, dass du es mir erzählt hast. Ich werde sie anrufen.«
»Am besten tagsüber, da ist Ralph bei der Arbeit. Stell dir vor, er erlaubt ihr ja nicht einmal ein eigenes Handy!«
»Man muss auf jeden Fall was unternehmen«, meinte Linda. »Und wenn du ein Problem hast, Antonia, egal was es ist, dann sag Bescheid.«
Antonia versprach es ihr und sie legten auf, nicht ohne einander zu versprechen, von nun an öfter miteinander zu chatten oder zu telefonieren. Das Gespräch hatte Antonia gutgetan. Es war beruhigend zu wissen, dass es wenigstens noch eine vernünftige Person in ihrer Familie gab. Sie hatte zwar auch noch eine Großmutter, pflegte
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