Röslein stach - Die Arena-Thriller
Überdies war der Sommer bis jetzt eher kühl gewesen.
Antonia steckte ihren Schlüsselbund ein, schnappte sich kurzerhand Roberts Fahrrad, das wie immer unabgeschlossen an dem Fliederbusch neben der Haustür lehnte, und schob es auf die Straße. Verdammt, der Sattel war viel zu hoch, sie erreichte die Pedale nur mit den Fußspitzen. Aber egal, sie wollte ja keine Radtour machen. Das Mädchen konnte noch nicht allzu weit sein. Antonia fuhr die Straßen ab, aber das Mädchen war wie vom Erdboden verschwunden. Mist! Wieso hatte Herr Petri sie einfach fortgeschickt, er hätte ja mal nachfragen können, ärgerte sich Antonia. Okay, er konnte ja nicht wissen, dass sie das Dachzimmer vermieten wollten, er hatte es sicher nicht böse gemeint.
Sie radelte zurück. Da! Das war sie doch, oder? Sie stand am Eingang zum Bergfriedhof und rauchte eine Zigarette. Dabei schaute sie zum Haus hinüber, als würde sie auf etwas warten.
Antonia fuhr auf sie zu und stieg vom Rad. »Hallo. Hast du gerade nach einem Zimmer gefragt?«
Die Fremde musterte Antonia mit gerunzelter Stirn.
»Ich wohne da drüben, du hast vorhin mit dem Gärtner gesprochen… also, wenn du willst, wir hätten noch ein Zimmer. Es ist aber unter dem Dach, etwas heiß im Sommer. Und ich muss natürlich noch die anderen fragen, aber vielleicht möchtest du es dir ansehen? Ach, ich heiße Antonia. Und du?«
Antonia kam sich etwas komisch vor, weil sie so viel redete und die andere noch gar nichts gesagt hatte.
»Selin.«
»Was?«
»Ich heiße Selin.« Sie drückte die Zigarette aus und warf ihre Haarflut zurück. Ihr Gesicht war nicht geschminkt, schräg stehende Augen unter weichen Lidern verliehen ihr eine orientalische Note. »Was soll es kosten?«
»Das… das weiß ich nicht. Ich kann das auch gar nicht alleine entscheiden, ich wohne selber noch nicht lange hier, aber…«
»Kann ich mal mit reinkommen?«, schnitt ihr Selin das Wort ab, und obwohl es eine Frage war, klang es wie ein Befehl.
»Ja, sicher«, hörte sich Antonia sagen und aus irgendeinem unerfindlichen Grund wurde ihr plötzlich unbehaglich zumute. Wieso war sie so kopflos vorgeprescht, ohne zuerst mit den anderen zu reden? Oder lag es an Selin? Sie hatte so etwas… Antonia konnte es nicht benennen, aber irgendetwas an ihr schüchterte sie ein.
Sie führte ihren Gast in die Küche. »Möchtest du einen Kaffee?« Eigentlich war Antonias Bedarf an Kaffee gedeckt, aber sie musste ja irgendwie die Zeit überbrücken, bis Robert wiederkommen würde. Und das war frühestens in zwei Stunden.
»Ja, gerne.« Selin setzte sich hin und schaute sich um. »Nett hier.«
»Einen Toast dazu?«
Sie nickte. Antonia versenkte zwei Scheiben Brot im Toaster.
»Wie alt bist du?«, fragte Antonia, während sie den Kaffee aufsetzte.
»Sechzehn.«
Sie sah älter aus, fand Antonia. »Und du suchst dringend ein Zimmer…«
Selin schlug ihre seidigen Wimpern nieder. Ihr »Ja« klang resigniert.
»Warum?«
»Weil ich nicht im Freien schlafen will.«
»Bist du irgendwo rausgeflogen?«, fragte Antonia verwirrt.
»So ähnlich«, sagte Selin. »Ich brauch erst mal etwas, wo mich niemand findet.«
»Wieso das denn?« Antonias Unbehagen wuchs. Was war mit diesem Mädchen los, hatte sie ein Verbrechen begangen, war sie auf der Flucht vor der Polizei?
»Kannst du etwas für dich behalten?« Die schwarzen Mandelaugen waren prüfend auf Antonia gerichtet.
»Klar.«
»Ich muss mich vor meiner Familie verstecken. Sie wollen, dass ich mit ihnen in die Türkei reise und dort einen Mann heirate, den sie vor über zehn Jahren für mich ausgesucht haben. Ein entfernter Cousin von mir.«
»Aber du bist doch erst sechzehn!«, rief Antonia.
»In der Türkei verheiraten sie Mädchen auch schon mit vierzehn. Ich habe jetzt erst erfahren, dass ich seit meinem fünften Lebensjahr verlobt bin.«
»Kennst du diesen Mann denn überhaupt?«
»Ich habe ihn ein einziges Mal gesehen, da war ich fünf und er zwölf. Ich erinnere mich schwach an ein Fest, ich dachte damals, irgendjemand hat Geburtstag. Das war meine Verlobung. Sie haben mir all die Jahre nichts davon gesagt, kannst du dir das vorstellen?«
Antonia schüttelte den Kopf.
»Weißt du, das Seltsame daran ist: Wir haben nie zu diesen Kopftuchtürken gehört. Mein Vater war immer recht liberal. Er hat Wert darauf gelegt, dass ich in der Schule gut bin, ich bin auf die Helene-Lange-Schule…«
»Da gehe ich auch hin, nach den Ferien!«, warf Antonia ein. »Wie ist
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