Röslein stach - Die Arena-Thriller
aber keinen intensiven Kontakt zu ihr. Die Frau lebte in ihrer eigenen Welt, die aus der Vergangenheit und ihren zahlreichen Vorurteilen bestand.
Antonias Magen knurrte. Höchste Zeit für einen Toast und einen Kaffee. Sie klappte den Laptop zu und ging hinunter in die Küche. Wenn man nur halb so viel Pulver nahm wie Robert, war das Gebräu, das diese Espressokanne ausspuckte, sogar trinkbar, das hatte sie inzwischen herausbekommen.
Draußen hatte sich der Himmel verdüstert, sie musste das Licht einschalten. Schon prasselte ein heftiger Regenschauer nieder. Sie sah den Gärtner, der vor dem Guss in Richtung Schuppen floh. Antonia öffnete die Hintertür und rief: »Herr Petri!«
Langsam wandte er sich um.
»Sie können auch in der Küche warten, bis es aufhört.«
»Schon gut, der Schuppen tut’s auch«, meinte er. »Meine Schuhe sind schmutzig.«
»Ich habe Kaffee gemacht«, sagte Antonia. Er schien zu überlegen, dann nickte er. Bedächtig zog er seine erdverschmierten Schuhe vor der Tür aus und setzte sich auf einen Küchenstuhl. Vorher wusch er sich noch die Hände über der Spüle.
Der Kaffee war noch nicht ganz fertig. Antonia stellte Milch und Zucker auf den Tisch und erkundigte sich nach dem Gemüsebeet. Bereitwillig erklärte Herr Petri, dass er ein Hochbeet anlegen wollte. Das sei bequemer zu bestellen und besser vor Schädlingen geschützt als ein ebenerdiges Beet. Er schilderte, welche Gemüsesorten und Kräuter er darin anbauen wollte. »Und an der Südseite des Schuppens, neben der Bank, werde ich einen Unterstand für Tomaten errichten. Tomaten vertragen nämlich keinen Regen, das mögen die gar nicht.«
Antonia hörte ihm gerne zu. Er sprach von Pflanzen wie von lebendigen Wesen – okay, das waren sie ja auch irgendwie. Offensichtlich standen ihm Pflanzen näher als Menschen, denn gerade sagte er: »Die Natur braucht den Menschen nicht. Danke, das ist sehr freundlich von dir.« Antonia hatte eine Tasse Kaffee vor ihm auf den Tisch gestellt. »Darf ich überhaupt Du sagen?«, fragte er dann.
»Ja, klar.« Antonia lächelte zurück. Der Mann war ihr irgendwie sympathisch. So ähnlich stellte sie sich ihren Vater vor – na ja, vielleicht zwanzig Jahre jünger. Oder ihren Großvater. Ihr richtiger Großvater war vor vier Jahren gestorben, ein griesgrämiger, mit sich selbst und seinen Krankheiten beschäftigter Mann, der ihr immer fremd geblieben war.
»Wie alt bist du, wenn ich fragen darf.«
»Fast siebzehn.«
»Ziemlich jung, um schon in einer WG zu leben«, bemerkte er.
»Es geht nicht anders. Ich möchte nach den Ferien aufs Gymnasium gehen. Meine Mutter wohnt draußen auf dem Land, sie… sie kann nicht in die Stadt ziehen, sie ist…«
Der Weinkrampf traf sie so überfallartig, dass sie keine Chance hatte, dagegen anzukämpfen. Innerhalb einer Sekunde schwammen ihre Augen in Tränen, die Nase ging zu, ein Kloß steckte in ihrer Kehle.
»Entschuldigung!« Sie schlug die Hände vors Gesicht. Wie peinlich, vor einem wildfremden Mann zu heulen.
»Du musst dich nicht entschuldigen.« Er stand auf, riss ein Papiertuch von der Küchenrolle und reichte es ihr. »Du hast bestimmt einen guten Grund, um traurig zu sein.«
Antonia schnäuzte sich geräuschvoll.
»Wenn du willst, erzähl es mir. Vielleicht weiß ein alter Mann einen guten Rat. Aber wenn du nicht darüber reden willst, dann lass ich dich jetzt alleine und du kannst sicher sein, dass ich schon in der Tür alles vergessen habe.«
Antonia atmete tief durch. Sie würde nur zu gerne seinem Vorschlag folgen und die letzten paar Minuten ungeschehen machen. Andererseits verspürte sie das Bedürfnis, wenigstens eine Erklärung für ihre blöde Heulerei abzugeben. Und vielleicht wusste er ja wirklich einen Rat.
Antonia berichtete, was gestern vorgefallen war, auch die notwendige Vorgeschichte dazu. Nachdem sie sich ausgesprochen hatte, ging es ihr tatsächlich besser. Ihre Stimme klang wieder ruhig und fest, als sie sagte: »Ich würde dieses Schwein am liebsten umbringen.«
»Das glaube ich dir«, meinte ihr Gegenüber ernst. »Die Möglichkeit zur Bestialität ist nun einmal integraler Bestandteil der Humanität«. Er bemerkte Antonias verwirrten Blick und fasste seine Erkenntnis in einfachere Worte: »In jedem Menschen steckt eine Bestie, sogar in dir.«
Antonia brachte ein Lächeln zustande. »Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen was vorgeheult habe.«
»Es muss dir nicht peinlich sein, dass du Mitgefühl hast. Aber keine
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