Röslein stach - Die Arena-Thriller
Betrunkenen schlafen gelegt hatten, hatte bestimmt niemand darauf geachtet, die Hintertür zur Küche abzuschließen. Nächtelang war er die Liste betrogener Ehemänner und eifersüchtiger Kerle, denen er die Frau ausgespannt hatte, durchgegangen. Er war ein erfolgreicher Maler und Dozent gewesen und anscheinend mit einem gewissen Charisma ausgestattet, denn seine jungen Studentinnen hatten förmlich an seinen Lippen gehangen. Und was die Frauen betraf: Er hatte nichts anbrennen lassen, wozu auch? Ja, es gab bestimmt einige Menschen, die ihn nicht leiden konnten, aber er konnte sich bis heute nicht vorstellen, dass ihn jemand so sehr hasste, um seinetwegen eine unschuldige junge Frau zu töten.
Vielleicht hatte es aber auch gar nichts mit ihm zu tun. Vielleicht – Möglichkeit Nummer zwei – hatte es der Täter auf Sonja abgesehen und war anschließend so raffiniert gewesen, ihn wie den Mörder aussehen zu lassen. Aber wer sollte Sonja töten wollen, warum? Er hatte nicht die leiseste Ahnung.
Die dritte Theorie war: Er hatte es selbst getan und wusste es nicht mehr.
Als Kind war er Schlafwandler gewesen. Natürlich gab es dafür keine Zeugen, seine Eltern waren ja tot. Seine geschiedene Frau hatte in den dreizehn Jahren ihrer Ehe nie etwas Derartiges bei ihm bemerkt und auch keine ihrer Vorgängerinnen und Nachfolgerinnen hatte ihn jemals schlafwandeln gesehen.
Aber er erinnerte sich, wie man ihn als Kind am Morgen manchmal fürchterlich ausgescholten hatte. Dafür, dass er nachts den Kühlschrank leer gegessen und die Milch auf dem Boden ausgekippt hatte, dafür, dass er nachts mit Vaters elektrischer Eisenbahn gespielt und alle Waggons hatte ineinanderkrachen lassen, dafür, dass er nachts einen der Stallhasen geschlachtet hatte. Der tote Hase hatte ihn besonders entsetzt. Es war sein Lieblingshase gewesen, der eigentlich nicht zum Schlachten bestimmt gewesen war. Außerdem hätte er niemals einen Hasen schlachten können, das tat immer nur seine Mutter. Er selbst hatte sich davor immer geekelt und nie hatte er ein Stück des Hasenbratens gegessen. Aber schon als Kind hatte er sich am nächsten Tag an nichts erinnert und er hatte sich gefragt, ob er so eine Art Werwolf war.
Für diese Vorfälle hatte auch seine Psychiaterin, Frau Dr. Tiedke, keine Erklärung gehabt. Stattdessen hatte sie gebetsmühlenartig von ihm verlangt, dass er sich zu seiner Tat bekenne, sich ihr »stelle«, wie sie es ausgedrückt hatte. Anderenfalls wäre jede Therapie sinnlos. Die ersten Jahre hatte er sich strikt geweigert. Doch aus Angst, sonst sein Leben lang nicht mehr aus dem Landeskrankenhaus entlassen zu werden, hatte er seiner Therapeutin gegenüber schließlich zugegeben, Sonja getötet zu haben.
Dies alles versuchte er nun der jungen Kommissarin zu erklären. Lediglich die Sache mit seiner Gärtnertätigkeit ließ er weg. Diese Art der Erinnerungsarbeit hätte die Kommissarin sicherlich nicht verstanden und erst recht nicht gebilligt.
Nach einer langen, weitschweifigen Rede kam er schließlich zum Grund seines Hierseins: »Damals, 1991, steckte die DNA-Technik noch in den Kinderschuhen. Jedenfalls wurde sie bei der Untersuchung meines Falles noch nicht angewendet. Die Beweismittel befinden sich doch sicher noch in der Asservatenkammer. Ich möchte, dass man sie auf DNA-Spuren untersucht und diese Spuren dann mit meiner DNA vergleicht. Das würde endlich meine Unschuld beweisen. Oder auch meine Schuld. Egal, ich will es wissen.« Bei diesen Worten zog er eine kleine, durchsichtige Plastiktüte hervor, in der sich ein paar graue, offenbar samt der Wurzel ausgerissene Haare und ein leicht aufgeweichtes Wattestäbchen befanden. Er legte es mit großer Geste auf Petras Schreibtisch.
»Reicht das?«
Petra Gerres tat einen tiefen Atemzug. »Herr Steinhauer, das ist nicht so einfach, wie Sie sich das vorstellen. Ich kann nicht mal eben in die Asservatenkammer gehen und das Beweismaterial einer neuen Untersuchung unterziehen.«
»Wieso denn nicht? Man liest doch immer wieder in der Zeitung, dass Altfälle noch einmal mit modernen Untersuchungsmethoden aufgerollt werden. Erst neulich hat man den Mörder eines Kindes gefunden, nach mehr als achtzehn Jahren…«
Die Kommissarin unterbrach ihn: »Das waren aber ungeklärte Fälle, Herr Steinhauer. Bei Ihnen ist das Ermittlungsverfahren abgeschlossen. Sie haben die Tat gestanden, es gab eine Verhandlung. Solche Fälle werden nur dann wieder untersucht, wenn es neue Fakten gibt.
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