Roland Hassel - 07 - Wiedergänger
irrationalen Details, die ein Bauwerk unverwechselbar machen: einen achtkantigen, schwarzen, offenen Turm, gekrönt von einem weiteren, ebenfalls achtkantigen, schmaleren, grünspanfarbenen Türmchen mit zwei unterschiedlich großen Kugeln auf der Spitze. Der Turm hatte ganz sicher niemals zu etwas Praktischem benutzt werden können, sondern war ausschließlich zu dekorativen Zwecken errichtet worden. Es lebe der Architekt!
Während ich die Hausnummer sieben ansteuerte, mußte ich daran denken, daß in diesem Haus Anfang der dreißiger Jahre der berühmte Atlasmord begangen worden war. In jener an Sensationen armen Zeit war das ein Ereignis, über welches man noch jahrelang sprach, und ich erinnere mich, wie meine Eltern den Fall mit Bekannten diskutierten. Es gab da nämlich ein paar kribbelnde Einzelheiten.
Ein fröhliches und schönes, attraktives Straßenmädchen, ungefähr dreißig Jahre alt und ›Skanska Lilly‹ genannt, wurde von einer Freundin tot aufgefunden. Diese hatte, nachdem sie vier Tage lang nichts von Lilly gehört hatte, den Hausmeister alarmiert. Lilly lag nackt auf einem Sofa, lediglich mit einem Paar langer schwarzer Stiefel bekleidet. Die Wohnung war pedantisch saubergemacht und aufgeräumt. Der Mörder wurde niemals gefunden, obwohl die bizarrsten Personen vom Rande der Gesellschaft verhört worden waren. Eine idyllische Zeit!
Heutzutage würde Skanska Lillys Schicksal bestenfalls eine Notiz zwischen ›Schlechtes Jahr für Futterrüben‹ und ›Geldstrafe für Dompropst – bespuckte weiblichen Pfarrer‹ hergeben.
Ein älterer Mann kam aus der Haustür, und ich konnte gerade noch meinen Fuß dazwischenhalten, bevor sie wieder zufiel. Im Zeitalter der Schlüsselcodes ist es wichtig, eine Gelegenheit abzupassen, um ins Haus zu gelangen. Der Alte schielte mich mißtrauisch an, aber ich grüßte ihn wie einen Bekannten, und mit einer zögernden Handbewegung akzeptierte er, daß ich wohl irgendwie in dieses Haus gehörte.
Im Hausflur blieb ich stehen und betrachtete die große Malerei auf der gegenüberliegenden Wand. Ganz unten gab es ein Schild mit der Aufschrift: Klara sjö von der St. Eriksbron aus – 1928. Das Bild zeigte den See, wie er damals gewesen sein mußte, voller offener Schleppkähne, Hausboote und anderer Nutzschiffe. Kein Paradies für Freizeitpaddler. Zur Rechten sah man den Kai mit großen Sandhaufen, dahinter niedrige Gebäude und einen Turm, der mit Kalk, Kies und Zement beschriftet war. Das muß lange vor meiner Schulzeit gewesen sein, denn ich erinnerte mich nicht daran, obwohl ich als Junge viel mit dem Faltboot unterwegs gewesen war. Da gab es Fabrikschornsteine und an Land gezogene Boote. Zur Linken beschrieben das Seeufer und die parallel verlaufenden Bahngleise einen weichen Bogen, und dahinter lagen die Mietshäuser und Kirchtürme. Eine gelungene Darstellung in natürlichen, manchmal etwas kräftigeren Farben.
Im Treppenaufgang hing ein weiteres Bild ähnlicher Größe. Es war mit Gamla Atlas beschriftet und zeigte das Fabrikgelände mit hohen Schornsteinen und einem Gewirr verschiedener Gebäude, die als Produktionsstätten oder Lager dienten. Links eine Brücke mit eisernen Bögen, über die täglich wohl Tausende zur Arbeit gegangen waren. Auch ein paar Bäume konnte ich am Bildrand entdecken, für die Arbeiter vielleicht die Erinnerung an ein paar wenige Urlaubstage im Jahr, und hinter der Fabrik undeutlich skizziert die Häuserreihen der Stadt. Wichtig aber war die Arbeitswelt. Die Farben waren bleicher, und über den Himmel rollten dunkle, schwere Wolken, als ob Atlas in übertragener Bedeutung eine Katastrophe drohte. Wie hieß der Maler? Die Signatur war kaum zu entziffern, ich deutete sie als O. Paulin.
Ich gab ihm im stillen ein Lob. Er hatte sein Handwerk verstanden.
H. Lund wohnte ein paar Stockwerke hoch, und ich trabte die gewundene Zementmosaiktreppe hinauf. Ab und zu blieb ich stehen, um Atem zu schöpfen. Eigentlich sollte ich noch in meinem Hotelbett liegen und ausruhen, aber das Foto von Karsten hatte mir den Schlaf vertrieben. Ich war kein Typ aus Stahl mehr, eher aus Blei, aber Metall ist eben Metall.
Auf jeder Etage wohnten sechs Familien in den für Atlas üblichen Kleinwohnungen. Die Türen waren aus heller Eiche und ebenso gut gepflegt wie das Haus im ganzen. Rentner halten auf Ordnung, wo sie wohnen. Ich klingelte und hoffte im stillen, daß jemand zu Hause sein möge. Als Fahnder vermeidet man es, vorher anzurufen und seinen
Weitere Kostenlose Bücher