Roland Hassel - 07 - Wiedergänger
anzutreffen. Wieder einmal verblüffte mich die Fähigkeit des menschlichen Körpers, zu gesunden und sich zu regenerieren. Das war es auch, was einen nicht verzweifeln ließ, wenn man beruflich mit all den verkommenen Typen zu tun hatte. Beim nächstenmal konnte es durchaus sein, daß aus so einem Subjekt ein satter und zufriedener Landtagsabgeordneter geworden war, der nur noch die Wochenendkonferenz im Blick hatte. Das kam natürlich nicht oft vor, aber die Beispiele gaben trotzdem Hoffnung. Instinktiv schaute ich auf ihre bedeckten Arme, und sie sagte ruhig: »Die Wunden sind geheilt, und vielleicht werden mit der Zeit auch die Narben verschwinden. Zum Schluß waren die Arme so geschwollen, daß ich das Heroin in die Hauptschlagader spritzen mußte. Ich hätte sterben müssen, aber ich wurde verschont.«
Sie hatte Kaffee vorbereitet, und ich konnte nicht nein sagen, obwohl ich Kaffee eigentlich nicht vertrug. Mit graziösen Bewegungen deckte sie den Tisch. Die durchscheinenden Tassen wiesen dasselbe Blumenmotiv auf wie die Zuckerdose und das Sahnekännchen. Früher hatte sie, wie die anderen Junkies auch, in sich hineingestopft und geschüttet, was gerade habhaft war, mit einer aufgeschlagenen Zeitung als Tischtuch.
»Kommissar Palm hat versprochen, daß du nicht so einer bist wie der, der vorher hier war.«
»Ich prügle Hunde nur in meiner Freizeit. Was ist geschehen?«
»Geschehen?«
»Ich meine …«
Ich wies auf den Tisch, das Zimmer und dann auf sie und fuhr fort: »Mit dir. Wieso sitzen wir hier und trinken Kaffee und reden miteinander wie zivilisierte Wesen? Warum stehe ich nicht in irgendeiner Ecke über dich gebeugt und versuche, ein vernünftiges Wort aus dir herauszukriegen, während du dich nur in Entzugskrämpfen windest und nicht einmal begreifst, daß ich da bin? Was ist geschehen?«
Ihr Lächeln vertiefte sich, und ihr Blick fiel auf das silbergerahmte Foto eines etwa zwanzigjährigen Mädchens, das den Betrachter ernst anschaute.
»Meine Tochter Pia. Ich bekam sie, als ich neunzehn war, und sie haben sie mir natürlich weggenommen und zu Pflegeeitern gegeben. Ich vergaß sie. Es gab sie einfach nicht. Jeder konnte der Vater sein. Es war kein gutes Heim für sie, die Leute wollten ihr immer wieder weismachen, daß sie schlechte Erbanlagen habe. Sie glaubte daran und begann selbst, Drogen zu nehmen, um ihrem schlechten Ruf gerecht zu werden. Sie wurde wie ich. Zum Glück hat man sie überredet, zu einer Heilerin zu gehen, und die vollbrachte ein Wunder an ihr. Sie gewann Selbstbewußtsein und konnte ein neues Leben beginnen.«
Eines der vielen Wunder.
»Und dann?«
»Sie spürte mich auf. Genau im richtigen Augenblick. Etwas Wunderbares geschah. Am selben Abend ging ich in eine Kirche und … Ja, ich fand Gott! Oder Gott fand mich. Ich gab mich Ihm hin. All das Alte und Schlechte fiel ab von mir wie zerschlissene Kleider. Jetzt arbeite ich nur noch für Ihn.«
Aha, errettet also. Ich hätte es eigentlich schon beim Anblick all der religiösen Dinge im Zimmer, der Christusbilder, des geschmiedeten Kreuzes und der frommen Malereien, kapieren müssen. Die Religion war eine der Kräfte, die eine Veränderung bewirken konnten. Andere waren die leidenschaftliche Liebe zu einem Mann oder einer Frau oder ein politisches Erwachen, oft unter revolutionären Vorzeichen.
Einen schwer Drogenabhängigen mit Worten zu überzeugen geht nicht. Millionen und Abermillionen verzweifelter Eltern haben es versucht. Sozialarbeiter sind davon überzeugt, daß es möglich sein muß. Aber die Ursachen des Mißlingens liegen im Physiologischen. Die Vernunft und die Bereitschaft, sachlichen Argumenten zu folgen, sitzen in einem Teil des Gehirns, die Sucht nach dem Gift in einem anderen, in einer Zone des Lustempfindens, und die Lust hat die Vernunft noch immer besiegt.
Nur eines kann die Sucht nach der Droge besiegen: Wenn man die eine Sucht durch eine andere ersetzt, zum Beispiel zu lieben, zu dienen oder sich für einen anderen einzusetzen.
»Was steht im Alten Testament, Sprüche, drittes Kapitel, dritter Vers?«
»Oh! Du denkst an die Devise über dem Portal? Sie lautet: ›Gnade und Treue sollen dich nicht verlassen. Hänge meine Gebote an deinen Hals und schreibe sie auf die Tafel deines Herzens.‹ Broms lebte nach diesem Spruch. Das Haus hier war speziell für alleinstehende Frauen vorgesehen, deshalb hat es so viele kleine Wohnungen. Ich bin so dankbar und froh darüber, daß man mir geholfen hat,
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