Rolandsrache
denn eine Nonne und ein Priester hatten Kleidung in diesem Dorf gekauft. Danach verlor sich allerdings ihre Spur. Niemand konnte ihnen sagen, wohin sie gegangen waren.
Seit wenigen Tagen war Claas nun in Wulsdorf, passte jedes Schiff ab und befragte die Kapitäne und die Mannschaften nach der Frau und dem Mann. Er war sicher, dass sie ein Schiff genommen hatten, um von hier fortzukommen. So ging er auch jetzt zielstrebig zum Anleger und wartete, bis man die Planke heruntergelassen hatte.
»Ist euer Kapitän zu sprechen?«, fragte er einen der Seemänner, die zu ihm hinuntersahen.
»Aye, komm hoch.«
Claas nickte und betrat das Schiff. Der Kapitän hatte weißes Haar und wachsame, freundliche Augen.
»Tag. Mein Name ist Claas Zellheyer. Ich habe ein paar Fragen.«
»Immer frei voner Leber weg, min Jung.«
»Ich suche eine Frau, die vor gut einer Woche Wulsdorf mit dem Schiff verlassen hat. Es war ein Mann bei ihr. Kann sogar sein, dass sie wie ein Priester und eine …«
»Claas! Claas!«
Alle Anwesenden rissen ihre Köpfe herum und blickten in die Richtung, aus der die Rufe kamen. In diesem Moment kletterte Anna aus der Ladeluke.
»Anna!« Claas riss überrascht die Augen auf und sprang ihr entgegen. Sie fielen sich in die Arme.
»Ein blinder Passagier, noch dazu ’n Weib! Und das auf meinem Schiff, heiliger Kalfatermann!«, hörten sie den Kapitän schimpfen.
»Wo kommt die denn her?«, fragte eine verwunderte Stimme.
»Keine Ahnung. Muss sich unter Deck versteckt haben«, antwortete eine andere, nicht weniger überrascht.
Claas war all das egal. Er hatte Anna wieder. Sie war schmutzig, barfuß und zitterte in seinen Armen. Sie weinte und lachte gleichzeitig. Wie zwei Ertrinkende klammerten sie sich aneinander.
Voller Sorge fragte Anna: »Meine Mutter?«
»Es geht ihr gut. Wo ist Heinrich?«
Anna sah ihn nicht an, sondern schüttelte stumm den Kopf. Tränen rannen über ihre schmutzigen Wangen. Zärtlich strich er ihr über das zerzauste Haar und küsste sie. Er wollte diesen Moment nicht zerstören, und eigentlich war ihm egal, wo der Priester abgeblieben war.
»Ich will hören, wie das Weib an Bord gekommen is!«, polterte der Kapitän im Hintergrund.
»Können wir das später klären? Sie ist erschöpft, das könnt ihr doch sehen«, sagte Claas nicht ohne Vorwurf.
»Von Helgoland«, antwortete Anna jedoch leise.
Claas warf Martin, der ihm gefolgt war, einen Blick zu, und dieser verstand.
»Klärt es mit uns, Herr Kapitän, wenn es eine Geldfrage ist«, sagte Martin.
»Na ja, dann macht, dass ihr von meinem Schiff kommt.« Gutmütig grinsend machte der Kapitän eine scheuchende Handbewegung.
»Komm, wir gehen.« Damit führte Claas Anna von Bord.
Claas am Leben zu sehen, seine Stimme zu hören, seinen warmen Körper zu spüren, war für Anna das größte Wunder von allen. Nie wieder wollte sie ihn loslassen.
Als das Schiff in den kleinen Hafen eingelaufen war und die Seeleute es vertäut hatten, war sie nahe daran gewesen zu verzweifeln. Jeden Moment musste sie damit rechnen, entdeckt zu werden. Als sie sich auf dem Schiff versteckte, hatte sie sich keine Gedanken gemacht, wie sie wieder hinunterkommen sollte. Und dann geschah das Unvorstellbare. Sie hörte die Stimme von Claas, der nach ihr suchte und mit dem Kapitän sprach!
Erst hatte Anna gedacht, sie würde träumen. Doch sie konnte sich nicht irren.
Mutig rief sie seinen Namen, kroch aus ihrem Versteck hervor und kletterte die Leiter nach oben. Und wirklich, da stand er, gesund und munter – und nicht tot, wie sie angenommen hatte. Müde sah er aus, ja, aber er war am Leben, und er hatte sie nicht aufgegeben. Sie fielen sich in die Arme, küssten sich, und sie vergaß in dieser Sekunde alles, was ihr widerfahren war.
»Ich liebe dich«, flüsterte sie, als sie in einer kleinen Hafentaverne saßen. In seinen Augen lag so viel Zärtlichkeit, dass es ihr den Atem nahm.
»Und ich liebe dich und will dich nie mehr verlieren.«
Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie immer und immer wieder. Irgendwann rang sie lachend nach Atem.
»Vor einigen Stunden hätte ich geschworen, dich nie wieder zu sehen.«
»Nun ist alles gut.«
Als sie schließlich in der Kutsche nach Bremen saßen, erzählte Anna Claas, was seit ihrer Entführung geschehen war. Sie berichtete, wie sie sich gefühlt hatte, als sie annahm, er wäre tot. Welche finsteren Gedanken sie gegen Heinrich gehegt hatte, bis hin zu dem Augenblick, als dieser in die
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