Rolandsrache
unregelmäßigen Abständen waren betrunkene Seeleute zurück an Bord gekommen, hatten kurz mit dem Posten gesprochen und waren dann unter Deck verschwunden. Aus einem dieser Gespräche hatte Anna zu ihrer Freude heraushören können, dass dieses Schiff am nächsten Tag Wulsdorf ansteuern würde, ehe es auf die See hinausfuhr. Trotz allen Leids schien sie wenigstens hier etwas Glück zu haben. Wenn sie nur unbemerkt an Bord kommen würde.
Der Mond war ein gutes Stück gewandert, und sie hatte schon eine Zeit lang keine Schritte mehr gehört. Entweder war die Wache eingenickt oder verrichtete ihren Dienst jetzt im Sitzen. Auch auf der Insel war alles ruhig, und die Fackeln erloschen. Anna konnte von hier aus das Haus sehen, in dem sie die letzten Tage verbracht hatten, und sie schauderte. Bei der Kerzenzieherin war ein paarmal jemand ein- und ausgegangen, vermutlich Sven, aber ansonsten war es um die beiden Häuser still gewesen. Offenbar hatte noch niemand ihr Verschwinden bemerkt. Sie hätte sich gern von Britta verabschiedet, aber es ging nicht. Anna wartete noch einige Minuten, ehe sie sich leise aus ihrem Versteck wagte.
Der Mond schien heute heller als sonst, zumindest kam es ihr so vor. Man würde sie schon von Weitem sehen können. Aber was hatte sie noch zu verlieren? Ihre Schuhe hatte sie bereits ausgezogen, ehe sie hierhergeschlichen war. Barfüßig ging sie so leise wie möglich auf das Schiff zu, blieb nach ein paar Schritten stehen und horchte. Außer dem Plätschern der Wellen und dem Säuseln des Windes war alles still. Ihr Herz klopfte vor Angst bis zum Hals, aber sie hatte keine Wahl.
Wieder ein paar Schritte. Noch immer war alles ruhig. Annas Hoffnung, dass die Wache eingeschlafen war, wuchs. Sie hatte beinahe das Deck erreicht, als sie plötzlich ein Geräusch hörte. Es war leise, aber regelmäßig. Ein Schnarchen? Geduckt ging sie an Deck und blickte in die Richtung, aus der es zu kommen schien. Tatsächlich, der Seemann lehnte an einem Mast. Aufgestützt auf einen langen Speer, war sein Kopf auf die Brust gesunken. Er schlief. Innerlich jubelnd sah Anna sich um.
Auf der einen Seite führte eine Leiter unter Deck. Vermutlich hielt sich dort die Mannschaft auf. Darüber war das Ruder. Dicht beim schlafenden Seemann gab es eine offene Luke. Vielleicht der Raum für die Ladung? Sie hatte gesehen, wie die Männer Kisten an Bord brachten, aber nicht, wohin. Ganz leise, immer ein Auge und ein Ohr auf den Schlafenden gerichtet, schlich sie zur Luke, beugte sich vorsichtig über den Rand und sah hinunter. Eine Leiter führte ins Dunkle. Da erregte eine leichte Bewegung ihre Aufmerksamkeit. Die Waffe, auf die sich der Seemann stützte, begann zu verrutschen. Sicher würde er gleich aufwachen. Sie musste handeln.
Schnell ließ sie sich über den Rand der Luke gleiten und kletterte die Leiter hinunter. Es waren nur wenige Sprossen, aber Anna konnte nichts sehen, und es stank nach Fisch. Von oben hörte sie ein Scheppern, dann einen Fluch. Anna machte mit ausgestreckten Armen ein paar Schritte und stieß mit dem Fuß gegen eine Kiste. Beinahe hätte sie aufgeschrien, konnte sich aber gerade noch in den Arm beißen. Ihr großer Zeh schmerzte schrecklich. Mit den Händen tastete sie die Größe der Kiste ab, merkte, dass daneben eine weitere und noch eine stand. Dann tat sich eine kleine Lücke auf. Anna quetschte sich hindurch und kauerte sich hinter eine der Kisten. Der Geruch nach Fisch und Brackwasser war hier noch intensiver, aber es störte sie nicht, solange dieses Schiff sie nur von hier wegbrachte. Das Huschen und Trippeln von kleinen Füßen machte ihr bewusst, dass sie nicht allein war. Sorgsam zog sie ihr Kleid über die Füße und hoffte, dass die Ratten sie in Ruhe lassen würden.
Gleichmäßig plätscherten die Wellen und schlugen immer wieder gegen die Bordwand. Seicht schaukelte das Schiff im Wind, und langsam beruhigte sich Annas Herzschlag. Oben begann der Seemann wieder seine Runde, aber sie war an Bord.
***
»Claas, ein Handelsschiff von Helgoland legt gerade an.« Martin hatte ihn vor drei Stunden dabei abgelöst, ankommende Schiffe zu beobachten.
»Gut, ich rede mit dem Kapitän.« Damit erhob sich Claas und verließ die kleine Taverne. Die Sonne war bereits untergegangen, aber am Anleger brannten große Fackeln, um Schiffen das Einfahren bei Dunkelheit zu erleichtern. Das neue wurde gerade vertäut.
Als sie aus Bremen hier angekommen waren, war Claas’ Hoffnung groß gewesen,
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