Rolandsrache
dürfen.« In ihren Ohren klang seine Stimme verzerrt. Die Sonne blendete, Tränen schossen ihr in die Augen. Sein Gesicht verschwamm langsam. Bald würde ihr die Luft ausgehen, doch Anna wehrte sich mit aller Kraft. Vergeblich, sein Griff war fest und unnachgiebig. Sie röchelte, konnte nicht mehr atmen. Das Rauschen der Brandung wurde lauter, übertönte sogar das Geschrei der Vögel, die sie zu verspotten schienen.
Plötzlich wurde sie innerlich ganz ruhig. Ob sie gleich Claas und ihren Vater wiedersehen würde? Heinrichs Lippen bewegten sich, aber sie hörte seine Worte nicht.
Messer! Der Gedanke zuckte durch ihren Kopf.
Ging die Sonne gerade unter? Es wurde so dunkel.
In deiner Tasche!
Mit letzter Kraft fuhr ihre zitternde Hand in den Umhang, umschloss die Waffe. Sie zog sie heraus und stach zu. Zuerst spürte sie einen Widerstand, doch durch die Wucht ihres Stoßes durchbrach ihn die Klinge und drang in Heinrichs Seite ein. Sofort lösten sich seine Hände.
Anna hustete, versuchte zu atmen. Langsam, ganz langsam floss etwas Luft in ihre Lungen. Aber sie brauchte mehr. Heinrichs Gewicht wich von ihrem Körper. Sie hustete, drehte sich auf die Seite und keuchte. Das Rauschen nahm ab, und es wurde auch wieder hell.
Sie sah zu Heinrich, der nur einen Schritt von ihr entfernt torkelnd auf die Beine kam. Blut lief aus der Wunde, in der das Messer steckte. Auch Anna gelang es, sich aufzurappeln. Heinrich taumelte gefährlich nah an den Klippenrand und starrte sie fassungslos an, dann wieder auf seinen Leib. Mit schmerzverzerrtem Gesicht packte er das Messer und zog es heraus.
Ihr Herz begann wieder zu rasen. Noch ehe sie wusste, was sie tat, sprang sie vor und stieß ihn mit voller Wucht. Heinrich schwankte, ruderte mit den Armen, doch vergeblich. Langsam, ganz langsam kippte er nach hinten. Anna meinte, es würde eine Ewigkeit vergehen, bis er schließlich über den Klippenrand stürzte und verschwand. Sie machte einen Schritt und sah entsetzt hinunter, es war tief, und sie sah ihn fallen. Hastig machte sie einen Schritt zurück, sie wollte nicht zusehen. Und die Vögel kreischten. War es Begeisterung?
Anna sackte weinend zusammen, zitterte am ganzen Körper.
Als sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, stand sie auf und sah erneut in die Tiefe. Noch immer konnte sie nicht glauben, was geschehen war. Unten tobten die Wellen, aber von Heinrich war nichts mehr zu sehen. Soeben hatte sie einen Menschen getötet, konnte noch fühlen, wie das Messer in seinen Körper eingedrungen war. Sie sah immer noch seine weit aufgerissenen Augen, die sie fassungslos angesehen hatten. Und nun war er tot.
Anna begann zu beten: »Heilige Anna, bitte hilf mir, ich habe eine große Sünde begangen und einen Menschen getötet. Ja, ich wollte ihn töten, seit ich wusste, was er getan hat, doch so habe ich es mir nicht vorgestellt. Es fühlt sich grauenvoll an. Was soll ich nur tun?«
Sie bezweifelte, dass ihre Schutzpatronin ihr vergeben konnte.
Was aber würden die Menschen mit ihr machen? Sie hängen oder köpfen? Gab es hier auf der Insel vielleicht noch schrecklichere Strafen? Ausweiden? Strecken, bis sie starb? Wann würde den Insulanern auffallen, dass Heinrich verschwunden war? Nach einem Tag oder zwei? Und wenn sie sich versteckte, wie lange konnte sie unentdeckt bleiben? Die Insel war klein, sicher kannten die Bewohner jeden Winkel und würden sie rasch aufstöbern.
Mutter! Nein, sie musste nach Bremen, ehe dem Büttel Rudolfus auffiel, dass von Heinrich keine Nachricht mehr kam. Er hatte erst heute eine geschickt, das gab ihr wenigstens etwas Zeit. Aber wie sollte sie nach Hause kommen? Heinrich hatte sein Geld immer am Gürtel getragen, und der war mit ihm gesunken. Sie besaß nur die zwanzig Pfennig in ihrer Tasche.
Mit zitternden Beinen erhob sie sich und ging zurück. Im Hafen lag noch immer das Handelsschiff. Konnte sie sich dort verstecken? Sie hatte keine Ahnung, wann oder wohin es auslaufen würde. Aber es war vielleicht eine Möglichkeit, von hier fortzukommen.
***
Für eine Aprilnacht war es verhältnismäßig warm. Der Wind wehte kräftiger als in Bremen, doch Anna war nicht kalt. Sie kauerte seit zwei Stunden unter dem Anleger und wartete auf eine Gelegenheit, sich auf das Schiff zu schleichen. Vom Deck hörte sie Schritte zeitweise umherwandern, dann wieder eine Weile verharren, um wieder von Neuem die Runde zu machen. Es musste eine Wache sein, und offenbar nahm sie ihre Pflicht ernst.
In
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