Rollende Steine
Zeitlang herrschte ständiges Kommen und Gehen.
Nach einigen Minuten kam eine der Frauen auf Susanne zu und zog eine Schriftrolle unter dem Brustharnisch hervor.
»Heda«, sagte sie in dem schroffen Tonfall von Reitern, die sich an Fußgänger wenden. »Hier ist von einem gewissen Wolf die Rede. Von ›Wolf dem Glücklichen‹…«
»Äh… ich weiß nicht… ICH MEINE, ICH WEISS NICHT, WER ER IST«, erwiderte Susanne hilflos.
Die üppige Frau mit dem Helm beugte sich vor. Irgend etwas an ihr schien Susanne vertraut.
»Bist du neu?«
»Ja. Ich meine, JA.«
»Willst du hier noch länger herumstehen, wie bestellt und nicht abgeholt? Kümmere dich um ihn, sei ein braves Mädchen.«
Susanne sah sich verzweifelt um, und endlich entdeckte sie ihn. Er war nicht weit entfernt: Zwischen den Gefallenen lag ein junger Mann; flackerndes Blau hob die Konturen seiner Gestalt hervor.
Sie eilte zu ihm und hielt die Sense bereit. Eine blaue Schnur verband den Krieger mit seinem früheren Leib.
QUIEK! rief der Rattentod. Er sprang umher und machte aufmunternde Gesten.
»Linke Hand, Daumen nach oben; rechte Hand am Gelenk beugen. Und ordentlich schwingen, Mädel!«
Susanne kam der Aufforderung nach, und die blaue Schnur riß.
»Was ist passiert?« Wolf senkte den Blick. »Das bin ich da unten, nicht wahr?« Langsam drehte er sich um. »Ein Teil von mir liegt auch dort. Und da drüben. Und…«
Er bemerkte die Frau mit dem gehörnten Helm, und seine Miene erhellte sich.
»Bei Io!« entfuhr es ihm. »Es stimmt tatsächlich? Walküren bringen mich zum Festsaal des Blinden Io, wo für immer geschmaust und getrunken wird?«
»Frag… ich meine, FRAG MICH NICHT«, sagte Susanne.
Die Walküre beugte sich vor und zog Wolf auf den Sattel.
»Sei jetzt hübsch still, in Ordnung?«
Sie bedachte Susanne mit einem nachdenklichen Blick.
»Bist du ein Sopran?«
»Wie bitte?«
»Singst du, Mädchen? Wir könnten einen Sopran gebrauchen. Heutzutage gibt es zu viele Mezzosoprane.«
»Ich bin nicht sehr musikalisch, tut mir leid.«
»Oh. Na ja. War nur so ein Gedanke. Tja, ich muß los.« Sie neigte den Kopf nach hinten und holte so tief Luft, daß der Brustharnisch zu bersten drohte. »Ho-joh-to! Ho!«
Das Pferd stieg dem Himmel entgegen. Es schrumpfte zu einem kleinen Punkt, bevor es zwischen den Wolken verschwand.
»Was hatte das alles zu bedeuten?« fragte Susanne.
Flügel rauschten. Der Rabe landete auf dem Kopf des kürzlich verstorbenen Wolf.
»Die hiesigen Krieger glauben folgendes: Wenn sie im Kampf sterben, kommen große Frauen mit gehörnten Helmen, um sie in einen Festsaal zu bringen, wo sie bis in alle Ewigkeit schlemmen und sich vollaufen lassen können.« Der Rabe rülpste leise. »Eine ziemlich dumme Vorstellung, wenn du mich fragst.«
»Aber es ist gerade geschehen!«
»Das ändert nichts daran.« Der Rabe sah übers Schlachtfeld. Nichts rührte sich dort – abgesehen von den übrigen Raben. »Was für eine Verschwendung. Ich meine… Sieh es dir nur an. Wenn das keine Verschwendung ist…«
»Ja!«
»Ich meine, ich platze fast, und da liegen noch Hunderte herum, die ich überhaupt nicht probiert habe. Nun, vielleicht kann ich etwas davon in einer Tüte mitnehmen…«
»Das sind Leichen!«
»Ja.«
»Und du hast von ihnen gefressen ?«
»Schon gut.« Der Rabe wich zurück. »Es ist genug für alle da.«
»Ich finde das abscheulich!«
»Ich habe die Krieger nicht getötet«, verteidigte sich der Vogel.
Susanne gab auf.
»Die Frau ähnelte der Eisernen Lily«, sagte sie, als sie zu dem geduldig wartenden Pferd zurückgingen. »Unsere Sportlehrerin. Und sie klang auch so.« Susanne stellte sich vor, wie die singenden Walküren über den Himmel ritten. Ran an die Krieger, ihr schlaffen Tanten…
»Parallele Evolution«, kommentierte der Rabe. »So was kommt oft vor. Zum Beispiel die gewöhnliche Krake. Sie hat ein Auge, das praktisch genauso beschaffen ist wie das menschliche. Es gibt nur einen Unterschied… Au!«
»Du wolltest sicher sagen, daß der Unterschied im Geschmack besteht, nicht wahr?« fragte Susanne.
»Gäme mir nie in den Winn«, entgegnete der Rabe undeutlich.
»Im Ernst?«
»Mein Wnabel«, sagte der Rabe. »Bitte laff ihn lof.«
Susanne zog die Hand zurück.
»Es ist schrecklich.« Sie schauderte. »Damit war er die ganze Zeit über beschäftigt? Ohne jemals wählen zu können?«
QUIEK.
»Und wenn die Leute den Tod gar nicht verdient haben?«
QUIEK.
Damit wies der Rattentod
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