Rom: Band 1
einer Stadt, wo ausgegrabene alte Steine bleichen, wo die große Schwermut toter Völker aufsteigt. Von Ort zu Ort sah Pierre das von den Rädern der Wagen ausgehöhlte Pflaster der Sacra Via, die immer wieder zum Vorschein kommt, sich wendet, hinab- dann wieder hinansteigt; und er dachte an den Triumph, die Auffahrt des Triumphators, den sein Wagen so hart auf diesem rauhen Pflaster des Ruhmes schütteln mußte.
Aber gegen Südosten erweiterte sich der Horizont und er bemerkte jenseits des Titusbogens und des Konstantinbogens die große Masse des Kolosseums. Ah, dieser Koloß, von dem die Jahrhunderte wie mit einem ungeheuren Sensenhieb nur die Hälfte abgerissen haben, bleibt in seiner Ungeheuerlichkeit, in seiner Majestät bestehen! Mit seinen Hunderten von leeren, in das Himmelsblau gähnenden Fenstern gleicht es einer Spitze aus Stein. Es ist eine Welt von Vorhallen, Treppen, Treppenabsätzen, Korridoren, eine Welt, in der man sich inmitten der Einsamkeit und der Stille des Todes verliert. Im Innern gleichen die zerbrochenen, von der Lust verwitterten Stufen den ungestalteten Staffeln eines alten, erloschenen Kraters, einer Art natürlichem Zirkus, den die Macht der Elemente mitten in den unzerstörbaren Felsen geschnitten. Aber die heiße Sonne von achtzehnhundert Jahren hat diese Ruine verbrannt und rot gefärbt; sie ist, seit sie ihrer Vegetation, der ganzen Flora beraubt wurde, die diesen Winkel zu einem Stück Urwald machte, in den Naturzustand zurückgekehrt, ist nackt und vergoldet wie die Flanke eines Berges. Und nun, was für eine Vision, wenn die Phantasie dieses tote Knochengerüst wieder mit Fleisch, Blut und Leben bekleidet, den Zirkus mit den neunzigtausend Zuschauern füllt, die er fassen konnte, die Arenaspiele und Kämpfe vorüberziehen läßt und eine ganze Zivilisation, vom Kaiser und seinem Hof bis zu dem hohlen See der Plebs in all der Erregung und dem Glanz eines ganzen, von Leidenschaft entstammten Volkes unter dem roten Widerschein des gigantischen Purpurvelums zusammenhäuft! Weiterhin am Horizont befand sich noch eine zweite cyklopische Ruine, die Thermen des Caracalla; auch sie sind als Spur einer von der Erde verschwundenen Rasse von Riesen übrig geblieben. Da sind Säle von übertriebener und unerklärlicher Weite und Höhe, zwei Vorhallen, in denen man die Bevölkerung einer Stadt empfangen kann, ein Frigidarium, dessen Becken auf einmal fünfhundert Badende aufnehmen konnte, ein Tepidarium, ein Caldarium von gleichem Umfang, der Sucht nach dem Ungeheuerlichen entsprossen. Und die erschreckende Masse des Monumentes, die Dicke der Pfeiler, wie keine Festung ihresgleichen hat – diese ganze Unendlichkeit, in der die Besucher wie verirrte Ameisen aussehen! Es ist ein so außerordentliches Schwelgen in Mörtel und Ziegeln, daß man sich fragt, für welche Mengen dieses ungeheuerliche Gebäude wohl erbaut worden sein mochte, heutzutage könnte man sie für uralte, von irgend einer Höhe herabgestürzte Felsen halten, die hier zum Baue einer Titanenwohnung zusammengehäuft wurden.
Pierre wurde von der maßlosen Vergangenheit, in der er nun untertauchte, überwältigt. Von allen Seiten, von allen vier Richtungen des ungeheuren Horizontes wurde die Geschichte wieder lebendig und stieg wie eine überschäumende Flut zu ihm auf. Diese bläulichen, unabsehbaren Ebenen im Norden und Osten, das war das alte Etrurien; im Westen zeichneten sich die zackigen Kämme des Sabinergebirges ab, während gegen Süden das Albanergebirge und Latium sich unter dem Goldregen der Sonne ausdehnten. Auch Alba Longa war da, und der eichengekrönte Monte Cavo mit seinem Kloster, das den alten Jupitertempel ersetzt hat. Dann, zu seinen Füßen, jenseits des Forums, jenseits des Kapitols breitete sich Rom selbst aus. Gegenüber lag der Esquilin, zu seiner Rechten der Coelius und der Aventin; die anderen, die er nicht sehen konnte, der Quirinal, der Viminal, befanden sich links, hinter ihm, am Ufer des Tiber, lag der Janiculus. Und die ganze Stadt erzählte ihm einstimmig die Geschichte ihrer toten Größe.
Da fand in ihm eine unwillkürliche Beschwörung, eine Auferstehung statt. Der Palatin, den er eben besichtigt hatte, dieser graue und düstere, gleich einer verfluchten Stadt geschleifte, mit einigen zusammenbrechenden Mauern bestreute Palatin, belebte, bevölkerte sich mit einemmale, erstand wieder mit all seinen Palästen und Tempeln. Hier war die Wiege Roms. Auf diesem, den Tiber beherrschenden Gipfel
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