Rom - Band II
bloße Glück des Lebens der Kreatur zu genügen schien, ein freier Genuß. In Neapel, erzählte Narcisse, in den engen, ekelhaften, mit trocknenden Wäschestücken beflaggten Straßen am Hafen und in S. Lucia verstrich das Leben des Volkes im Freien. Frauen und Kinder, die nicht unten aus der Straße waren, lebten auf den leichten Holzbalkonen, die sich unter allen Fenstern hinzogen. Dort wurde genäht, gesungen, dort wusch man sich. Aber hauptsächlich die Straße war das gemeinsame Wohnzimmer; hier zogen sich die Männer die Hose vollends an; hier lausten halbnackte Frauen ihre Kinder und kämmten sich selber, und hier war für dieses verhungerte Volk immer der Tisch gedeckt. Auf kleinen Tischen, auf Wagen fand unaufhörlich ein Markt von sehr billigen Eßwaren statt. Da gab es überreife Granaten und Melonen, gekochte Nudeln, gekochte Gemüse, gebackene Fische, Muscheln, alles fix und fertig, beständig bereit, so daß man im Freien essen konnte, ohne daß je in der Küche ein Feuer angezündet werden mußte. Und was für eine wimmelnde Menge! Die Mütter fuchtelten unaufhörlich mit den Armen umher, die Väter saßen in einer Reihe längs des Trottoirs, die Kinder galoppirten endlos hin und her – alles inmitten eines rasenden Getöses, inmitten von Geschrei, Gesang, Musik, der seltsamsten Unbekümmertheit! Rauhe Stimmen lachten laut auf, braune, unschöne Gesichter besaßen bewunderungswürdige Augen, die unter dem zerzausten, tintenschwarzen Haar in Daseinsfreude stammten. Ach, armes, heiteres, kindisches, unwissendes Volk, dessen einziger Wunsch sich auf die paar Centesimi beschränkte, die notwendig sind, um auf diesem fortwährenden Markt den Hunger zu stillen! Gewiß, noch nie ist sich eine Demokratie ihrer selbst weniger bewußt gewesen. Da es hieß, daß es ihnen um die einstige Monarchie leid that, unter der ihre Rechte auf dieses Leben sorgloser Armut gesicherter erschienen waren, mußte man sich fragen, ob es notwendig sei, sich ihretwegen zu erregen, ihnen wider ihren Willen mehr Wissen und Bewußtsein, mehr Wohlsein und Würde zu erobern. Dennoch stieg beim Anblicke dieses vom Rausch und der Bethörung der Sonne hervorgerufenen Frohsinns der Hungerleider im Herzen Pierres eine unendliche Traurigkeit auf. Ja, der schöne Himmel war es, der die lange Kindheit dieses Volkes bewirkte; er war die Erklärung dafür, warum diese Demokratie nicht rascher erwachte. Gewiß, die Armen von Rom und Neapel litten an allem Mangel, aber in ihrem Herzen blieb nicht der Groll der schrecklichen Wintertage zurück, der finstere Groll, daß sie vor Kälte zittern mußten, während die Reichen sich an großen Feuern wärmten; sie kannten nicht die wütenden Träumereien in den schneegepeitschten, elenden Hütten vor der dünnen, dem Erlöschen nahen Kerze – sie kannten nicht das dann aufstammende Bedürfnis, Gerechtigkeit zu schaffen, nicht die Pflicht der Empörung, um Frau und Kinder vor der Schwindsucht zu retten, um auch ihnen ein warmes, menschenwürdiges Nest zu schaffen. Ach ja, das frierende Elend ist das Uebermaß der sozialen Ungerechtigkeit, die schrecklichste Schule, in der der Arme sein Leben kennen lernt, sich darüber empört und schwört, ihm ein Ende zu machen, selbst wenn die alte Welt darüber zusammenbrechen müßte!
In dieser Milde des Himmels fand Pierre auch eine Erklärung für den heiligen Franziskus, diesen göttlichen Bettler aus Liebe, der auf den Wegen umherzog und den köstlichen Zauber der Armut feierte. Er war zweifellos ein unbewußter Revolutionär und legte durch diese Rückkehr zur Liebe der Armen, zur Einfachheit der Urkirche auf seine Weise Verwahrung gegen den überströmenden Luxus des römischen Hofes ein. Aber niemals hätte ein solches Erwachen der Unschuld und Nüchternheit in einer nordischen, von den Dezemberfrösten erstarrten Gegend stattfinden können. Dazu bedurfte es des Zaubers der Natur, der Mäßigkeit eines von der Sonne genährten Volkes, dazu mußte der Bettlerstand immer mit warmen Straßen gesegnet sein. Nur auf diese Weise hat er zum vollständigen Vergessen seiner selbst gelangen können. Und da drängte sich eine zuerst verwirrende Frage auf: wie hat ein heiliger Franziskus, eine Seele, die alle Kreaturen, die Tiere, die Dinge mit so brennender Bruderliebe umgab, einst auf dieser Erde entstehen können, die heutigen Tags so wenig barmherzig, so hart gegen die Armen ist, die ihr gemeines Volk verachtet und nicht einmal ihrem Papste Gaben spendet? Hatte also
Weitere Kostenlose Bücher