Rom - Band II
der uralte Hochmut die Herzen vertrocknet? Oder führte die Erfahrung sehr alter Völker zuletzt zum Egoismus? Denn die Seele Italiens schien in seinem dogmatischen und pomphaften Katholizismus eingeschlafen zu sein, während die Rückkehr zum evangelischen Ideal, die Liebe zu den Armen und Leidenden heutzutage auf den traurigen Ebenen des Nordens, unter den der Sonne beraubten Völkern erwachte. Alles das wirkte zusammen; und das war insbesondere der Grund, warum der heilige Franziskus, nachdem er so fröhlich seine Dame, die Armut, erkoren hatte, sie nun mit nackten Füßen und nur halb bekleidet durch den herrlichen Frühling, durch Bevölkerungen führen konnte, in denen damals ein feuriges Mitleids- und Liebesbedürfnis brannte.
Während des Sprechens waren Pierre und Narcisse auf dem Platz vor St. Peter angelangt. Sie ließen sich vor der Thüre des Restaurants, in dem sie bereits einmal gefrühstückt hatten, an einem der kleinen, mit Tischtüchern von zweifelhafter Weiße belegten Tische nieder, die dort längs des Pflasters standen. Aber die Aussicht war wirklich herrlich: gegenüber lag die Basilika, rechts über der majestätischen Entwicklung der Kolonnaden der Vatikan. Pierre hob sofort die Augen und begann abermals den Vatikan zu betrachten, der ihn fortwährend verfolgte. Insbesondere beobachtete er das zweite Stockwerk mit den stets geschlossenen Fenstern, wo der Papst wohnte, wo nie etwas Lebendes zum Vorschein kam. Dann, als der Kellner die Hors d'oeuvres, Finocchi und Anschoven, auftrug, stieß der Priester einen leichten Schrei aus, um die Aufmerksamkeit Narcisse Haberts auf sich zu ziehen.
»Ach, sehen Sie doch, lieber Freund ... dort an jenem Fenster, von dem man mir gesagt hat, daß es das des heiligen Vaters ist ... sehen Sie nicht eine weiße, unbewegliche Gestalt dort stehen?«
Der junge Mann begann zu lachen.
»Das muß der heilige Vater in eigener Person sein. Sie wünschen so sehr, ihn zu sehen, daß Ihr Wunsch ihn herausbeschwört.«
»Ich versichere Sie,« wiederholte Pierre, »dort hinter den Scheiben steht eine ganz weiße Gestalt, die uns ansieht.«
Narcisse, der sehr hungrig war, aß, indem er fortfuhr zu scherzen. Plötzlich aber sagte er:
»Nun, mein Lieber, da der Papst uns ansieht, ist es ganz an der Zeit, sich wieder mit ihm zu beschäftigen ... Ich habe Ihnen versprochen, Ihnen zu erzählen, wieso er die Millionen vom Erbgut Petri in jener schrecklichen Finanzkrise verloren hat. Sie sahen eben ihre Ruinen, und ein Besuch in dem neuen Viertel auf den Prati del Castello wäre ohne diese Geschichte als Abschluß nicht vollständig.«
Er begann zu erzählen, ohne sich einen Bissen entgehen zu lassen. Nach dem Tode Pius' IX. überschritt das Erbgut Petri zwanzig Millionen. Kardinal Antonelli, der spekulirte und im allgemeinen gute Geschäfte machte, hatte dieses Geld lange Zeit teils bei Rothschild, teils in den Händen verschiedener Nuntien liegen lassen, die somit den Auftrag hatten, es im Auslande zu fruktifiziren. Aber nach dem Tode des Kardinals Antonelli verlangte Kardinal Simeoni, der an seine Stelle trat, das Geld von den Nuntien zurück, um es in Rom anzulegen. Zu jener Zeit, gleich nach seiner Thronbesteigung, berief Leo XIII. eine Kommission von Kardinälen zur Verwaltung des Erbgutes. Monsignore Folchi wurde zum Sekretär ernannt. Dieser Prälat, der während zwölf Jahren eine bedeutende Rolle spielte, war der Sohn eines Beamten der Dateria, [Fußnote: Päpstliche Kanzlei.] der bei seinem Tode eine durch geschickte Unternehmungen erworbene Million hinterließ. Monsignore Folchi schlug in dieser Geschäftstüchtigkeit seinem Vater nach und erwies sich als ein Finanzmann ersten Ranges, so daß ihm die Kommission nach und nach alle Gewalt übertrug, ihn vollständig nach seinem eigenen Ermessen schalten ließ und sich damit begnügte, die von ihm in jeder Sitzung vorgelegten Berichte zu billigen. Das Erbgut trug nicht mehr als eine Million jährlich, und da das Ausgabenbudget sich auf sieben Millionen belief, mußten die sechs anderen irgendwo gefunden werden. Der Papst gab also Monsignore Folchi jährlich drei Millionen aus dem Peterspfennig, und der Prälat bewirkte während der zwölf Jahre seiner Verwaltung das Wunder, sie durch seine klugen Spekulationen und Anlagen zu verdoppeln. Man konnte daher dem Budget Rechnung tragen, ohne das Erbgut anzugreifen. So erzielte er in der ersten Zeit beträchtliche Gewinnste durch das Spiel in römischen Gründen. Er nahm
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