Rom - Band III
Handbuch der Wahrheit, setzte sein Werk fort, indem es allem zum Trotz den Irrtum zerstörte und die künftige Erde baute, wie die unendlich kleinen Teilchen, die Kräfte des Lebens nach und nach die Kontinente erbauten.
In dem hellen Licht, das plötzlich in Pierre entstand, fühlte er sich endlich wieder auf festem Boden stehen. Ist denn die Wissenschaft je zurückgewichen? Der Katholizismus ist es, der unaufhörlich vor ihr zurückweicht und unaufhörlich vor ihr zurückweichen müssen wird. Nie steht sie stille; Schritt für Schritt nimmt sie dem Irrtum die Wahrheit ab, und wenn man sagt, daß sie bankerott macht, weil sie die Welt nicht mit einemmale aufklären könnte, so ist das einfach unvernünftig. Wenn sie dem Geheimnisvollen ein immer geringer werdendes Gebiet läßt und zweifellos immer lassen wird, wenn eine Hypothese immer den Versuch einer Erklärung dieses Geheimnisvollen wird machen können, so ist es darum doch nicht weniger wahr, daß sie die alten Hypothesen – jene, die vor den eroberten Wahrheiten zusammenstürzen – zu Grunde richtet, mit jeder Stunde mehr zu Grunde richten wird. Und der Katholizismus befindet sich in dieser Lage; er wird es morgen noch mehr sein als heute. Wie alle Religionen ist er im Grunde nur eine Auslegung der Welt, ein höherer, sozialer und politischer Kodex, der dazu bestimmt ist, allen Frieden, alles mögliche Glück auf Erden herrschen zu lassen. Dieser Kodex, der die Gesamtheit der Dinge umfaßt, wird somit menschlich und sterblich, wie alles Menschliche. Man vermag ihn nicht abzusondern, indem man sagt, daß er auf der einen Seite durch sich selbst besteht, während die Wissenschaft auf der andern Seite existirt. Die Wissenschaft ist vollständig; das hat sie ihm bereits zu verstehen gegeben, das wird sie ihm wohl noch zu verstehen geben, indem sie ihn nötigt, die fortwährenden Breschen, die sie ihm schlägt, auszubessern – bis zu dem Tage, da sie ihn bei einem letzten Ansturm der leuchtenden Wahrheit hinwegreißen wird. Es gibt Stoff zum Lachen, wenn man sieht, wie Leute der Wissenschaft ihr eine Rolle zuweisen, ihr das Betreten dieses oder jenes Gebietes verbieten, ihr prophezeien, daß sie nicht weiter gehen wird und erklären, daß sie, schon jetzt müde, am Ende dieses Jahrhunderts abdanken wird. Ach, ihr kleinen Menschen, ihr beschränkten oder schlecht gebauten Gehirne, ihr Aushilfspolitiker, ihr Dogmatiker in den letzten Zügen, ihr, die ihr beharrlich die alten Träume wieder träumen wollt! Die Wissenschaft wird über euch fegen und euch forttragen wie trockene Blätter!
Und Pierre blätterte in dem einfachen Buche weiter und lauschte auf das, was es ihm von der hehren Wissenschaft erzählte. Sie kann nicht bankerott machen, denn sie, die einfach die allmäliche Eroberung der Wahrheit ist, verspricht nicht das Absolute. Nie hat sie sich angemaßt, die vollständige Wahrheit mit einemmale zu geben; gerade diese Art System ist Sache der Metaphysik, der Offenbarung, des Glaubens. Die Rolle der Wissenschaft liegt im Gegenteil nur darin, daß sie den Irrtum zerstört, je mehr sie fortschreitet und die Helle vergrößert. Somit bleibt sie in ihrem unaufhaltsamen Lauf, weit davon entfernt, Bankerott zu machen, die einzige Wahrheit, die für gesunde und gleichmäßige Köpfe denkbar ist. Was jene betrifft, die sie nicht befriedigt, jene, die das rufende Bedürfnis nach der vollständigen und unmittelbaren Erkenntnis empfinden, so bleibt ihnen das Hilfsmittel, zu irgend einer religiösen Hypothese Zuflucht zu nehmen; freilich unter der Bedingung, daß, wenn sie scheinbar recht behalten wollen, ihre Chimäre nur auf den erworbenen Gewißheiten aufbauen. Alles, was auf erwiesenem Irrtum aufgebaut wird, bricht zusammen. Wenn das religiöse Gefühl im Menschen weiterlebt, wenn das Bedürfnis nach einer Religion ewig ist, so folgt daraus nicht, daß der Katholizismus ewig ist; denn er ist eigentlich nur eine Religionsform, die nicht immer existirt hat, der andere Religionsformen vorausgingen und andere folgen werden. Die Religionen können verschwinden, das religiöse Gefühl wird andere schaffen, sogar mit Hilfe der Wissenschaft. Und Pierre dachte an jene angebliche Schlappe, die die Wissenschaft durch das gegenwärtige Erwachen des Mystizismus erlitten hatte. Er hatte dessen Gründe in seinem Buche angegeben: erstens den Niedergang des Freiheitsgedankens unter dem Volke, das bei der letzten Teilung betrogen ward, und zweitens das Unbehagen der bevorzugten
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