Rom - Band III
zweifellos und nichts mehr blieb übrig. Jetzt waren auch die letzten Säulen, der Chor, sogar die riesigen Pfeiler niedergeworfen worden. Der Wind hatte ihren Staub davongetragen; man hätte den Boden durchglühen müssen, um unter den Nesseln und Dornen einige Bruchstücke von zerbrochenen Statuen, von Marmorplatten mit Inschriften zu finden, über deren Sinn die Gelehrten sich nicht einigen konnten. So wie einst am Kapitol, unter den verschütteten Trümmern des Jupitertempels, kletterten Ziegen in der Einsamkeit, in der großen, bloß von dem Summen der Fliegen ausgefüllten Stille träger Sommermittage umher und nährten sich von Sträuchern.
Jetzt erst fühlte Pierre, wie völlig alles in ihm zusammengebrochen war. Es war ganz aus; die Wissenschaft war Siegerin, von der alten Welt blieb nichts übrig. Wozu der Schismatiker, der erwartete Reformator sein? Hieß das nicht einen neuen Traum aufbauen? Nur der ewige Kampf der Wissenschaft gegen das Unbekannte, ihre Untersuchung, die im Menschen den Durst nach dem Göttlichen unablässig hetzte und verminderte, schien ihm jetzt von Wert zu sein und ließ ihn darauf harren, ob sie je derart triumphiren würde, daß sie der Menschheit eines Tages durch die Befriedigung aller ihrer Bedürfnisse Genüge thäte. In dem Bankerott seiner Apostelbegeisterung, angesichts der Ruinen, die sein ganzes Wesen, seinen toten Glauben, seine tote Hoffnung, den alten Katholizismus für die soziale und moralische Rettung zu benützen, bedeckten, hielt ihn nur noch die Vernunft aufrecht. Einen Augenblick hatte sie geschwankt. Daß er sein Buch geträumt, daß er diese zweite, schreckliche Krisis durchgemacht hatte, kam daher, weil sein Gefühl von neuem den Sieg über seine Vernunft davongetragen hatte. Beim Anblick der Leiden der Unglücklichen, bei dem unwiderstehlichen Wunsch, ihnen zu helfen, um die nahen Gemetzel zu beschwören, hatte seine Mutter in ihm zu weinen begonnen; so ließ ihn sein Bedürfnis nach Nächstenliebe die Bedenken seines Verstandes vergessen. Jetzt hörte er die Stimme seines Vaters, die hohe Vernunft, die grimmige Vernunft – die Vernunft, die einen Augenblick verdunkelt werden konnte, aber majestätisch wiederkehrte. So wie nach Lourdes protestirte er gegen die Verherrlichung des Lächerlichen und den Verfall des gesunden Menschenverstandes. Er war die Vernunft. Sie allein ließ ihn fest und aufrecht unter den Trümmern der alten Ueberzeugungen, sogar inmitten der Dunkelheiten und Fehlgeburten der Wissenschaft einherschreiten. Ach, die Vernunft! Nur durch sie würde er leiden, nur durch sie würde er befriedigt werden; er schwor, ihr, seiner einzigen Herrin, immer mehr Genüge zu thun, und wenn er auch das Glück dabei lassen müßte!
Was er anfangen würde? Es wäre vergebliche Mühe gewesen, das in dieser Stunde erfahren zu wollen. Alles hing in Schwebe; er hatte die ungeheure Welt vor sich. Sie war noch von den Ruinen der Vergangenheit versperrt, aber vielleicht schon morgen von ihnen befreit. Da drüben, in der traurigen Vorstadt, würde er den guten Abbé Rose wiederfinden, der ihm erst tags zuvor geschrieben hatte, er möge zurückkommen, recht rasch zurückkommen, um seine Armen zu pflegen, um sie zu lieben, zu retten, da dieses aus der Ferne so strahlende Rom sich der Barmherzigkeit taub verschloß. Und rings um den guten, friedlichen Priester würde er auch die fortwährend wachsende Flut der Unglücklichen wiederfinden – die aus dem Neste gefallenen, vor Hunger bleichen, vor Kälte zitternden Kleinen, die er auflas – die in entsetzlicher Not lebenden Familien, wo der Vater trinkt, die Mutter sich preisgibt, die Söhne und Töchter dem Laster und dem Verbrechen anheimfallen – ganze Häuser, durch die der Hunger strich – der widrigste Schmutz, die schmachvollste Gemeinschaftlichkeit – keine Möbel, keine Wäsche – ein tierisches Leben, das Befriedigung und Erleichterung sucht, wie es kann, wie Instinkt und Zufall es mit sich bringen. Dann kämen wieder die Winterfröste, das Unglück der Arbeitseinstellung, die Schwindsucht, die die Schwachen wie ein Stoßwind wegraffte, während die Starken, von Rache träumend, die Faust ballten. Eines Abends würde er vielleicht wieder in ein Schreckensgemach treten, in dem eine Mutter sich mit ihren fünf Kleinen getötet hätte. Die Jüngstgeborenen hielte sie im Arm, an ihrer leeren Brust, die anderen lägen zerstreut auf der kahlen Diele, im Tode endlich glücklich und gesättigt. Nein, nein,
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