Rom kann sehr heiss sein
beziehungsweise zwischen Aufmerksamkeit und Abwesenheit einnehmen. Man darf bei einem Kriminalfall nicht zu ambitioniert auf der Suche nach Indizien und Motiven sein. Es kommt vielmehr auf ein schwer beschreibbares Gleichgewicht von Konzentration und Abgelenktsein an, das allein zur Entschlüsselung der Rätsel eines Verbrechens befähigt. Sterne sieht man auch am besten, wenn man leicht an ihnen vorbeiblickt.
Die wenigsten Verbrechen sind übrigens linearer Natur. Sie halten sich selten an kausale Abläufe nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung, wie sie angeblich das Motiv, die Tat und ihre Folgen miteinander verknüpfen. In den meisten Fällen ist eine solche Logik nur ein Faden unter vielen in einem Gewebe aus zahllosen miteinander verknüpften Bezügen. Täter sind eben keine Bürokraten. Opfer sind es viel eher, denn sie führen häufig ein geregeltes, bürgerliches Leben. Man sollte ein Verbrechen daher besser mit einem Teppich vergleichen, eng geknüpft aus längs und quer verlaufenden Fäden, aus Kette und Schuss. Das Muster schimmert auch auf der Unterseite durch. Schwer deutbare Ornamente erzählen möglicherweise eine Geschichte. Das gilt für die kleinen Ornamente am Rand genauso wie für die zentralen Rauten. Betritt man als Ermittler einen solchen Teppich, sollte man unbedingt auf die scheinbar unwesentlichen Details achten. Das Lächeln einer Frau auf einem Bahnsteig, die Bemerkung eines Mannes an der Hotelbar, der sich über sein Mobiltelefon beugt, auf dem er soeben eine Nachricht eingetippt hat, und der nun kaum hörbar murmelt: »Ich bin vielleicht zu weit gegangen.« Das können wichtige Knoten in jenem Teppich sein, zwar zeitlich und räumlich voneinander getrennt, jedoch durch unsichtbare Fäden miteinander verknüpft.
Wenn ich es mit einem neuen Fall zu tun habe, versuche ich nach Möglichkeit ein naives Gespür für die spezifische Knüpftechnik des jeweiligen Verbrechens zu entwickeln. Ich achte auf den Zustand der Fransen am Rand, auf die kleinen Ornamente, ehe ich mich dem Hauptmotiv in der Mitte nähere. Ich weiß aus Erfahrung, dass dieses Gespür im Verlauf der Ermittlungen immer weiter verloren geht, dass der analytische Verstand schließlich die Oberhand bekommt und damit auch eine Form der Logik, die einen allzu häufig blind macht für die feinen Nuancen sowohl der Wirklichkeit als auch eines Verbrechens. Ganz anders verhält es sich, wenn man als Opfer, Freund oder Angehöriger persönlich in ein Verbrechen involviert ist. Dann taugen alle diese Erfahrungen und Verhaltensmuster nichts mehr. Weder Logik noch Intuition helfen in diesem Fall weiter, weil man von anderen, wesentlich primitiveren Reaktionen beherrscht wird. Wut, Verzweiflung, Angst, Resignation zum Beispiel. Wenn man in eigener Sache ermittelt, wie ich es in diesem Fall tun musste, verliert man die Kontrolle über das Geschehen, man taucht in es ein, wird selbst zu einem Spielball und weiß nicht, wohin dieser noch rollt, wer ihn wirft oder fängt.
Zwei Dinge geschahen in diesem Jahr, die es denkwürdig im wahrsten Sinne des Wortes für mich machten: Ich hatte zum ersten Mal seit langer Zeit wieder eine feste Freundin, und meine Mutter verschwand. Ich ertappte mich dabei, mich zu fragen, ob etwa zwischen diesen beiden Tatsachen ein versteckter Zusammenhang bestand, verwies dies aber sofort in den Bereich irrationaler Gefühle. Wahr ist allerdings, dass es meine Mutter immer irgendwie geschafft hatte, mich in meinen Beziehungsproblemen zu bestärken. »Du bist ein guter Junge«, pflegte sie oft zu sagen. »Du hast nur den großen Fehler, dich zu wichtig zu nehmen. Deshalb hält es auch auf die Dauer keine Frau mit dir aus. Dir fehlt eben die Demut des Normalen. Darin gleichst du deinem verstorbenen Vater.«
Warum hatte sie diesen Ausdruck gebraucht? Verstorbener Vater? Ich wusste doch schließlich, dass er schon lange tot war. Das Gespräch hatte im Altersheim stattgefunden, in dem sie seit einem Jahr wohnt. Ein modernes Heim, das den Insassen viel Freiheit lässt. Es wird dort häufig musiziert und Musik gehört. Operettenmelodien sind angeblich ein Mittel humaner Altenpflege. Meine Mutter hatte schon nach kurzer Zeit die Heimleitung gegen sich aufgebracht, weil sie in allen Bereichen zu dominieren versuchte. Sie zog Hip-Hop bei weitem den Operetten vor. Sie kleidete sich auch viel zu jugendlich aus meiner Sicht. »Ich nehme mich nicht wichtiger als andere«, hatte ich damals gesagt. »Das ist doch ganz natürlich,
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