Roman
Waisenkind ihr eigenes Essen bezahlen lassen?! Du herzloses Ding!« Lachend machen wir uns wieder an die Arbeit.
Wie alle meine Freunde glaubt Lori, meine Eltern wären gestorben, als ich sechzehn war. In Wahrheit haben sie sich nur eine zehn- bis fünfzehnjährige Auszeit von meinem Leben genommen. Bisher bin ich niemals auf die Idee gekommen, ich könnte Freundschaften über einen so langen Zeitraum hinweg haben, dass das erneute Auftauchen von Mom und Dad ein Problem werden könnte. Aber die Wahrscheinlichkeit für dieses Szenario wächst momentan.
Schließlich gibt es so etwas wie Entlassung auf Bewährung.
Erst nach Sonnenuntergang stolpern Lori und ich vom Bürgersteig in das dunkle Treppenhaus zu meiner Wohnung.
»Tut mir leid, aber die Birne ist immer noch hinüber.« Ich lasse die Tragetasche vom China-Imbiss in die Armbeuge rutschen, damit ich mich auf dem Weg nach oben am Geländer festhalten und so in der herrschenden Dunkelheit orientieren kann.
Oben angelangt, schließe ich auf und versetze der Tür einen Stoß. In meinem Schlafzimmer brennt Licht.
Ich lasse nie das Licht an.
Ich erstarre. Lori rennt in mich hinein. »Ciara! Was zum Teufel …!«
»Jemand ist in der Wohnung!«, raune ich ihr zu, obwohl es nach unserem geräuschvollen Eintritt für sämtliche Arten von Heimlichkeiten zu spät ist.
»O Gott! Bist du sicher?«
Aus dem Schlafzimmer heraus höre ich das typische Klappern von aneinanderschlagenden Hartplastikhüllen, leise begleitet vom Rhythmus eines Liz-Phair-Tracks.
»Das darf ja wohl nicht wahr sein!« Rasch schreite ich den Flur hinunter bis zur Schlafzimmertür.
Shane sitzt im Schneidersitz auf dem Boden meines Schlafzimmers – eine Insel in einem Meer aus CD s. Er strahlt, als er mich sieht. »Hi, Ciara!«
Ich schlucke die ungewollt aufkeimende Freude schnell hinunter und versuche sie durch Empörung zu ersetzen. »Wie bist du reingekommen?«
Wie er sich mit einer raschen Kopfbewegung das Haar aus dem Gesicht wirft, hat etwas sehr überzeugend Unschuldiges. »Du hast mich doch hereingebeten.«
»Nein, ich …« Ich breche mitten im Satz ab, weil ich begreife, dass er das in einem bestimmten Sinn, in einem auf Vampire bezogenen Sinn meint.
Ich drehe mich zu Lori um, die sich gerade neben mich stellt. »Gib uns bitte einen Moment.«
Lori reagiert überrascht, als sie Shane sieht. »He, das ist ja der Typ von gestern Abend!« Sie wirft ihm einen finsteren Blick zu. »Warum bist du in Ciaras Wohnung eingebrochen?«
»Schon gut, Lori! Ist bloß ein Missverständnis.« Ich drücke ihr die Tüte mit dem Essen in die Hand. »Stäbchen findest du in der Besteckschublade.«
Sie begreift den Wink. »Schrei, wenn du Hilfe brauchst.«
Ich mache einen Schritt ins Schlafzimmer hinein und werfe die Tür zu. »Wie bist du denn nun reingekommen?«
»Ich habe dein Schloss geknackt.« Shane zeigt auf seinen Kopf. »Ein empfindliches Gehör kann das Einrasten der Stifte wahrnehmen.«
»Faszinierend! Ich will dich nicht hier haben.«
Über Shanes Gesicht huscht ein skeptischer Ausdruck, ehe er den Blick auf meinen Oberschenkel richtet. »Wie geht es dir?«
»Ich musste genäht werden und habe eine Tetanus-Impfung bekommen. Es tut bei jedem Schritt weh.«
»Tut mir echt leid. Wirklich.«
»Warum bist du überhaupt hier?« Ich bemühe mich, nicht laut zu werden, um Lori nicht auf den Plan zu rufen. »Du bist doch nur ins Pig gekommen, weil David dich geschickt hat.«
Er nickt. »Normalerweise hänge ich im O’Leary’s ab. Nicht so hochgestochen, keine Studenten.«
»Du bist mit mir vor Jolene abgehauen, bist mit mir nach Hause gegangen, hast mit mir rumgemacht: alles nur, um mir zu beweisen, dass Vampire existieren.« Die Entrüstung in meinem Ton überspielt, wie verletzt ich bin. »Du hast mich ganz übel verarscht.«
»Nein, das war nicht der einzige Grund, weshalb ich gestern Abend mit dir nach Hause gegangen bin.« Shane steht auf und macht einen Schritt auf mich zu. »Und was meinen Grund anbelangt, heute hier zu sein: Ich möchte zu Ende bringen, was ich gestern begonnen habe.«
Aufkeimende Panik lässt mich nach dem Türknauf greifen, ehe ich begreife, dass er über das Sortieren der CD s redet. »Das kann ich selbst erledigen. Das Alphabet ist mir durchaus geläufig.«
»Was ist denn der vierte Buchstabe nach M ?«
»Mir doch egal!«
»Q«, erwidert er. »Ich muss mir nicht einmal das Alphabet-Lied vorsingen, um das herauszufinden. Ich kenne das Alphabet nämlich
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