Roman
bisschen was von uns zu erzählen. Zu erzählen, wie wir Vampire geworden sind.« Vereinzelt wird im Publikum gekichert oder sogar laut gelacht. Spencers Gesichtsausdruck aber unterstreicht seine Ernsthaftigkeit. Jedes Wort, sagt dieses Gesicht, ist die reine, unverfälschte Wahrheit. Die meisten unten im Publikum sehen und spüren das. Sie können nicht anders und hängen mit den Augen förmlich an Spencers Lippen.
»Einige von uns wollten ewig leben«, sagt er. »Einige einfach nur leben.« Sein Adamsapfel hüpft ein einziges Mal deutlich sichtbar. Sein Blick verliert sich für einen Augenblick in der Ferne, für genau einen Lidschlag, mehr nicht – ich hätte es verpasst, hätte ich zeitgleich geblinzelt.
»Aber für uns alle«, fährt er fort, »hat sich immer alles um Musik gedreht. Musik war für jeden von uns so wichtig wie Blut.« Ein Raunen geht durch die Menge, ein deutliches Zeichen dafür, wie die Spannung steigt.
»Jede Menge Leute sagen, Rock ’n’ Roll heißt: so richtig ordentlich rummachen. Sie glauben, das sei die eigentliche Bedeutung.« Unter langen dunklen Wimpern wirft er den Frauen zu seiner Linken einen Blick zu, der sagt: Ich habe ja eigentlich keine Ahnung davon, aber vielleicht könnt ihr es mir ja zeigen.
»Rock ’n’ Roll aber, das ist in Wirklichkeit Unsterblichkeit«, fährt Spencer fort. »Denn dank Mister Edisons Erfindungsgeist können unsere Urenkel noch Elvis oder Jerry Lee hören, als säßen sie mit den beiden im Studio irgendwo in Memphis. Und das heißt ›ewig leben‹, Leute. Unsterblichkeit hat nicht nur damit zu tun, dass man nicht stirbt – es bedeutet auch, nicht alt zu werden, nicht erwachsen zu werden, niemals erwachsen werden zu wollen!« Wieder huscht kurz ein Lächeln über Spencers Gesicht, als ob ihn die Schlussfolgerung selbst überrasche: »Man könnte also behaupten, dass ein Vampir zu sein für uns der ultimative Lebensstil des Rock ’n’ Rolls ist.«
Er legt den Hebel am Plattenspieler um und lässt den Tonarm bei Blue Suede Shoes aufsetzen – in der Version von Carl Perkins. Es dauert nur ein paar Augenblicke, und die Menge tanzt und wiegt sich zur Musik, dreht und bewegt sich mit allem, was im Rhythmus mitschwingen kann. Spencers Blick wandert an der Reihe von Frauen entlang, die ihn anhimmeln. Ich suche nach Anzeichen für Blutdurst. Aber anstatt sich mit der Hand übers Gesicht zu fahren, streicht er sich nur mit den Fingern durchs Haar und zieht mit klassischer Verführergeste sein TShirt vorne glatt.
»Was meinen Sie?«, fragt eine vertraute Stimme gleich neben meinem Ohr.
Als ich meinen Kopf in Richtung des Sprechers drehe, sehe ich David neben mir stehen. »Ich meine, Spencer hat gerade elegant gekniffen, anstatt uns seine Geschichte zu erzählen. Kennen Sie sie?«
Er nickt. »Aber es ist nicht an mir, sie zu erzählen.«
»Und was ist mit Ihrer?«
»Meiner was?« Er beugt sich näher zu mir, streckt mir sein Ohr entgegen, als hätte er mich akustisch nicht verstanden.
»Ihrer eigenen Geschichte!«, brülle ich ihm ins Ohr.
Er schüttelt den Kopf, tippt sich gegen das Ohr und zuckt mit der Schulter, ganz so, als sei die Musik immer noch zu laut, um mich zu verstehen. »Da wartet noch ein Reporter für ein Interview auf mich«, brüllt er mir zu und verzieht sich in Richtung Theke. Er bewegt sich ganz anders als in seinen Arbeitsklamotten, als ob er jetzt erst in seiner richtigen Haut stecke.
An der Theke ergattert David einen Platz, wo gerade eben noch eine Brünette mit Begleiterin gestanden hat. Jede der beiden Frauen hält ein Pintglas mit blutrotem Bier in der Hand. Der Schaum läuft ihnen über die penibel manikürten Finger. Dementsprechend angewidert blickt die Brünette drein, während sie sich noch einmal zur Theke umdreht, um sich eine Serviette zu greifen. Dabei fällt das Licht der Lampen über der Theke auf ihr Gesicht.
Jolene.
Instinktiv suche ich nach dem nächstgelegenen roten Notausgang-Schild. Aber schließlich bin ich hier, weil ich zu arbeiten habe.
»Ich bin gleich zurück«, verkünde ich, an Franklin gerichtet.
Jolene und ihre Begleiterin arbeiten sich gerade durch die Menge zur nächsten Wand vor. Die Wand ist geschmückt durch eine silber-schwarze Tapete; Motiv: Friedhof. Die beiden sehen nicht gerade gut gelaunt aus, so wie sie hin und wieder an ihrem Bier nippen, und beobachten, was in der Bar so abgeht. Ich bin noch im Anmarsch auf die beiden, aus spitzem Winkel heraus, da lässt sich Jolenes
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