Roman
machst du Witze?! Er war der Opening Act bei den Violent Femmes, meinem ersten Konzert!«
»Wow, krass! Bei meinem ersten Konzert waren es Night Ranger und .38 Special. Aber sag das ja nicht den anderen Djs. Sie denken, es wäre Black Flag gewesen.«
»Oooh, sieh an, Shane McAllisters dunkelstes Geheimnis, endlich enthüllt!«
Mit einem warnenden Blick, eindeutig gespielt, legt Shane den Finger an die Lippen. »Bei deinem Konzert – hat Luka da deinen Song gespielt?«
»Meinen was?«
»Du hättest es gewusst, wenn’s so gewesen wäre.« Shane holt tief Luft und atmet ganz langsam wieder aus. »Ich entschuldige mich schon mal dafür, dass ich es versemmeln werde.«
Ich stelle den Teller fort. Als Shane zaghaft den ersten Akkord anschlägt, verwandelt die harmonische Tonfolge das Weizenfeld in eine Bühne. Statt die Töne zu schlucken, gibt das Feld ihnen Tiefe und Hall, wirft sie zu mir, der Zuhörerin, zurück, als ob sie nur für mich bestimmt wären.
Shane beginnt zu singen. Der Klang seiner Stimme überrascht mich. Ich hätte nie vermutet, dass er eine solche Stimme besitzt: weich, tief, voll gedämpftem Schmerz. Seine Zunge rollt die Rs und schafft es, einen irischen Akzent anklingen zu lassen. Shane sieht mich nicht an. Wenn er sich nicht selbst auf die Finger schaut, wie sie auf den Bünden des Griffbretts liegen, hält er die Augen geschlossen.
Auf den Text achte ich nicht sonderlich, bis Shane das erste Mal den Refrain singt.
Meinen Namen.
Ich keuche auf, so laut, dass es Shanes Gesang noch übertönt. Seine Stimme hat jetzt noch mehr Schmelz und steigt eine Oktave höher. Nie im Leben wäre ich auf die Idee gekommen, jemand könnte eine Ciara besingen – mich. Wie jedes Mal, wenn mein Name über Shanes Lippen kommt, wird mir heiß, vom Nacken bis über die Ohren.
Bei der zweiten Strophe achte ich auf den Text und begreife sofort, dass ich und die besungene Ciara nichts gemeinsam haben. Sie ist ein braves Mädchen, tugendhaft und keusch, unerreichbar. Sie ist ein »Engel«.
Meine Augen brennen, und mir wird eng um die Brust, als hätte man mich in einen Schraubstock gespannt. Ich umfange die Knie mit den Armen und verberge mein Gesicht dazwischen. Mir schießen die Tränen in die Augen, und ich kneife mich rasch selbst ins weiche Fleisch der Armbeuge, um mich durch den Schmerz abzulenken. Der Song findet seinen Höhepunkt im letzten Refrain, wo die Worte Ciara und Engel miteinander verschmelzen. Während die Melodie verklingt und Stille eintritt, hole ich krampfhaft Luft. Mit jedem Atemzug kämpfe ich darum, meine Fassung wiederzugewinnen.
Zu spät. Shane unterbricht sein Spiel, als er mich derart aufgelöst sieht. »War ich so schlecht?«
Ich versuche ein Nein herauszupressen, aber es kommt mir nur ein erstickter Laut über die Lippen. Es strengt mich so an, etwas sagen zu müssen, dass ich die Tränen nicht mehr zurückhalten kann. Der Damm bricht.
»Was ist denn los? Ciara, was hast du denn?« Durch einen Tränenschleier sehe ich, dass Shane mich in den Arm nehmen will, es sich dann aber anders überlegt. Richtig; die Nicht-Anfassen-Regel, die dafür sorgt, dass wir sicher und vernünftig sind.
Ich schüttle den Kopf, bin aber immer noch nicht fähig zu sprechen. Jedes Atemholen endet in einer entwürdigend unkontrollierbaren Serie piepsig-hoher Schluchzer.
»Nimm dir Zeit.« Shane stimmt ohne echte Not die Gitarre noch einmal. Meine Tränen versiegen allmählich, sind statt Sturzbach nur noch ein Rinnsal.
Endlich komme ich wieder zu Atem. »Mein Vater hat mich immer seinen Engel genannt.« Ich schniefe. »Guter Witz, was?«
»Ich bin mir sicher, dass er es ernst gemeint hat.« Shane hält mir eine Papierserviette hin. Es ist eine von den weichen, dicken wie man sie für schicke Partys einkauft.
»Früher einmal, ja.« Ich probiere ein Lächeln, während ich mir die Tränen trockne. »Du solltest unbedingt durch Kneipen und Bars touren. Du würdest die Getränkeumsätze sicher verdoppeln.«
Shane schweigt einen Moment. Dann: »Wo ist dein Vater jetzt?«
»Im Gefängnis. Wie meine Mutter auch. Also, sie sitzen nicht im selben Gefängnis. Aber sie sitzen aus demselben Grund.«
»Und aus welchem?«
»Rate mal.«
»Lieber nicht.«
Ich seufze. »Sie haben sich als ›Geistheiler‹ betätigt.« Das Wort Geistheiler setze ich mit der bekannten Geste unmissverständlich in Anführungszeichen. »Sie sind im ganzen Mittelwesten herumgereist und haben aus Gläubigen Deppen gemacht. Die
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