Roman eines Schicksallosen (German Edition)
hatte, sind wir zu den Schwestern gegangen – denn Annamaria hat es inzwischen bewerkstelligt, mich dort einzuführen, wie sie schon damals vorgehabt hatte. Auch ihre Mutter hat mich freundlich empfangen. (Ihr Papa ist im Arbeitsdienst.) Sie haben eine ganz ansehnliche Wohnung, mit einem Balkon und Teppichen, einigen größeren Zimmern und einem separaten kleineren für die Mädchen. Es ist mit einem Klavier, zahlreichen Puppen und anderen Dingen nach Mädchengeschmack ausgestattet. Meistens spielen wir Karten, aber heute hatte die ältere Schwester keine Lust dazu. Sie wollte zuerst mit uns über ein Problem sprechen, über eine Frage, die sie neuerdings sehr beschäftigt: Es ist nämlich so, dass ihr der gelbe Stern einiges Kopfzerbrechen bereitet. Eigentlich habe erst «der Blick der Leute» sie auf die Veränderung aufmerksam gemacht – denn sie findet, dass die Leute sich ihr gegenüber verändert haben, und sieht in ihren Blicken, dass sie von ihnen «gehasst» wird. Auch heute Vormittag habe sie es so empfunden, als sie im Auftrag ihrer Mutter einkaufen ging. Nun, also mir scheint, sie sieht das auf eine etwas übertriebene Art. Meine Erfahrungen zumindest sind nicht die gleichen. So gibt es auch am Arbeitsplatz unter den Maurermeistern solche, von denen jeder weiß, dass sie Juden nicht ausstehen können: Trotzdem haben sie sich mit uns Jungen ganz gut angefreundet. Gleichzeitig ändert das natürlich noch gar nichts an ihrer Einstellung. Dann ist mir noch das Beispiel des Bäckers eingefallen, und ich habe versucht, dem Mädchen zu erklären, dass in Wirklichkeit nicht sie selbst gehasst werde, also nicht sie als Person – denn schließlich kennt man sie ja gar nicht –, sondern eher die Idee «Jude». Da hat sie erklärt, eben darüber habe auch sie gerade nachgedacht, weil sie im Grunde gar nicht recht wisse, was das ist. Annamaria hat ihr zwar gesagt, das wisse doch jeder: eine Religion. Aber daran war sie nicht interessiert, sondern am «Sinn». «Schließlich muss man doch wissen, wofür man gehasst wird», so meinte sie. Sie hat zugegeben, dass sie zu Beginn das Ganze überhaupt nicht verstanden habe und sehr betroffen gewesen sei, dass man sie verachte, «einfach nur, weil ich Jüdin bin»: Da habe sie zum ersten Mal gefühlt, dass – so sagte sie – sie etwas von den anderen Menschen trenne und dass sie anderswo hingehöre als sie. Dann habe sie nachzudenken begonnen, auch durch Bücher und Gespräche versucht, hinter die Sache zu kommen, und dabei habe sie erkannt: Gerade deswegen werde sie gehasst. Sie ist nämlich der Ansicht, dass «wir Juden anders sind als die anderen», dass diese Verschiedenheit das Wesentliche ist und die Juden deshalb von den Menschen gehasst würden. Sie sagte auch noch, wie eigenartig es für sie sei, im «Bewusstsein dieser Verschiedenheit» zu leben, und dass sie deswegen manchmal eine Art Stolz, dann wieder eher irgendwie Scham empfinde. Sie wollte von uns wissen, wie wir es mit unserer Verschiedenheit hielten, ob wir stolz darauf seien oder uns eher schämten. Ihre Schwester und Annamaria wussten es nicht so recht. Auch ich habe bis jetzt noch keinen Anlass für solche Gefühle gesehen. Und überhaupt, man kann doch diesen Unterschied nicht einfach selbst bestimmen: Schließlich ist ja genau dafür der gelbe Stern da, soviel ich weiß. Das habe ich ihr auch zu bedenken gegeben. Aber sie hat sich darauf versteift: «Den Unterschied tragen wir in uns.» Meines Erachtens ist dagegen das wichtiger, was wir außen tragen. Wir haben lange darüber debattiert, warum weiß ich nicht, denn um die Wahrheit zu sagen, ich sah nicht recht ein, warum die Frage so wichtig war. Aber es war etwas an ihrem Gedankengang, das mich irgendwie ärgerte: Meiner Meinung nach ist das alles viel einfacher. Na ja, und dann wollte ich bei dieser Auseinandersetzung auch gewinnen, natürlich. Auch Annamaria schien hin und wieder etwas sagen zu wollen, aber dann ist sie keinmal dazu gekommen, weil wir beide sie nicht mehr richtig beachtet haben.
Schließlich habe ich ein Beispiel gemacht. Zuweilen, zum bloßen Zeitvertreib, hatte ich auch schon über die Sache nachgedacht, und deshalb kam es mir jetzt in den Sinn. Ich hatte vor kurzem ein Buch gelesen, eine Art Roman: Ein Bettler und ein Prinz, die sich, von diesem Unterschied abgesehen, von Antlitz und Gestalt auffällig, bis zum Verwechseln ähnlich waren, vertauschten aus reiner Neugier ihr Schicksal, bis dann schließlich aus dem Bettler
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