Roman eines Schicksallosen (German Edition)
ein richtiger Prinz und aus dem Prinzen ein richtiger Bettler wurde. Ich habe dem Mädchen gesagt, sie solle versuchen, sich das für ihren eigenen Fall vorzustellen. Das ist natürlich nicht sehr wahrscheinlich, aber schließlich ist ja vieles möglich. Nehmen wir an, es sei ihr als ganz kleinem Kind passiert, wenn man weder sprechen noch sich erinnern kann, und egal wie, aber – nehmen wir einmal an – man hat sie eben irgendwie vertauscht, oder irgendwie hat sich ergeben, dass sie mit dem Kind einer anderen Familie verwechselt wurde, einer Familie, deren Papiere in rassischer Hinsicht einwandfrei sind: Nun, in diesem angenommenen Fall würde jetzt das andere Mädchen die Verschiedenheit spüren und natürlich auch den gelben Stern tragen, während sie, aufgrund der Angaben, die über sie vorhanden sind, sich genauso sehen würde – und natürlich auch von den anderen so gesehen würde – wie die übrigen Menschen und nicht die leiseste Ahnung von dieser ganzen Verschiedenheit hätte. Das hat ziemlich auf sie gewirkt, soviel ich sah. Zuerst hat sie bloß nichts mehr gesagt, dann haben sich nach und nach, aber so sacht, dass ich es fast schon spüren konnte, ihre Lippen voneinander gelöst, als ob sie etwas sagen wollte. Dann ist aber doch nicht das geschehen, sondern etwas anderes, viel Merkwürdigeres: Sie ist in Tränen ausgebrochen. Sie vergrub das Gesicht in der Beuge ihres Ellbogens auf dem Tisch, und ihre Schultern zuckten in einem fort. Ich war höchst überrascht, denn das war ja nicht meine Absicht gewesen, und dann hat mich auch der Anblick irgendwie verwirrt. Ich habe mich über sie gebeugt, ihr Haar, ihre Schultern und den Arm ein wenig zu berühren versucht und dabei gebeten, dass sie nicht weinen soll. Doch sie rief bitter und mit immer wieder versagender Stimme so etwas wie: Wenn es nichts mit unserer Eigenart zu tun habe, dann sei ja das alles nur reiner Zufall, und wenn sie auch eine andere sein könnte, als die sie sein muss, dann «hat das alles keinen Sinn», und das sei ein Gedanke, der ihrer Meinung nach «unerträglich ist». Es war mir peinlich, denn schließlich war ich schuld, aber ich hatte ja nicht wissen können, dass ihr dieser Gedanke so wichtig war. Mir lag schon auf der Zunge, ihr zu sagen, sie solle sich nichts daraus machen, denn in meinen Augen habe das alles überhaupt keine Bedeutung, ich verachte sie nicht für ihre Rasse; doch dann habe ich gleich gespürt, dass es ein bisschen lächerlich wäre, wenn ich das sagte, und so habe ich nichts gesagt. Nur, es war mir eben doch nicht recht, dass ich es nicht sagen konnte, denn in dem Augenblick empfand ich es wirklich so, ganz unabhängig von meiner eigenen Situation, um nicht zu sagen, ganz frei. Es ist zwar schon möglich, dass in einer anderen Situation vielleicht auch meine Meinung anders wäre. Ich weiß es nicht. Ich sah auch ein, dass es mir nicht möglich ist, das auszuprobieren. Und doch, irgendwie war es mir unbehaglich. Und ich weiß nicht recht, aus welchem Grund, aber jetzt passierte es mir zum ersten Mal, dass ich etwas fühlte, das, glaube ich, doch so etwas wie Scham war.
Doch erst im Treppenhaus ist mir dann noch zur Kenntnis gebracht worden, dass ich mit jener Empfindung andererseits wohl Annamaria verletzt habe, so schien es mir jedenfalls: Da war es nämlich, dass sie sich so sonderbar benahm. Ich sagte etwas zu ihr, und sie antwortete nicht einmal. Ich versuchte, sie am Arm festzuhalten, aber sie hat sich losgerissen und mich auf der Treppe stehen lassen.
Auch am nächsten Nachmittag habe ich vergeblich gewartet, dass sie den Kontakt mit mir aufnimmt. So konnte ich auch nicht zu den Schwestern gehen, weil wir ja bisher immer zusammen dorthin gegangen sind, und sie hätten bestimmt Fragen gestellt. Und überhaupt: Ich verstand nun schon besser, wovon das Mädchen am Sonntag gesprochen hatte.
Am Abend, bei Fleischmanns, ist sie dann doch erschienen. Anfangs hat sie sich nur auf wenige Worte mit mir eingelassen, und ihre Züge haben sich erst wieder ein bisschen gelöst, als ich ihr auf die Bemerkung, sie hoffe, ich hätte mit den Schwestern einen angenehmen Nachmittag verbracht, gesagt habe, dass ich nicht oben gewesen sei. Sie wollte wissen, warum nicht, worauf ich wahrheitsgemäß sagte, ich hätte ohne sie nicht hingehen mögen: Mir schien, auch diese Antwort gefiel ihr. Nach einiger Zeit war sie sogar bereit, mit mir die Fische anzuschauen – und von dort sind wir dann schon ganz versöhnt
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