Roman eines Schicksallosen (German Edition)
sich die anderen irgendwie vor ihm in Acht nehmen. Einen anderen haben sie dann schon gelöster mit ihrem Geschrei empfangen: Er wird von allen seinen engeren Kameraden immer nur der «Halbseidene» genannt. Ich fand diese Bezeichnung auch durchaus treffend, wegen seines glatten, glänzenden dunklen Haars, seiner großen grauen Augen und überhaupt wegen der liebenswürdigen Geschmeidigkeit seines ganzen Wesens; erst nachträglich habe ich dann gehört, dass der Ausdruck in Wirklichkeit auch noch etwas anderes bedeutet und dass er den Namen deshalb erhalten hat, weil er sich in seinem Leben daheim anscheinend recht geschickt bei den Mädchen umtut. Einer der Autobusse hat dann auch «Rosi» gebracht: In Wirklichkeit heißt er Rosenfeld, aber sein Name wird eben von allen so abgekürzt. Aus irgendeinem Grund genießt er bei den Jungen Ansehen, und in Fragen, die alle angehen, richten wir uns jeweils nach seiner Meinung; auch beim Polier vertritt stets er uns. Wie ich gehört habe, geht er auf die Handelsschule. Mit seinem intelligenten, wenn auch ein wenig zu langen Gesicht, dem blonden welligen Haar und den etwas starr blickenden wasserblauen Augen erinnert er an die alten Gemälde in den Museen, solche, bei denen sich immer Aufschriften wie «Infant mit Windhund» und so ähnliche finden. Dann ist auch Moskovics eingetroffen, ein winzig kleiner Junge mit einem schon etwas weniger ebenmäßigen, um nicht zu sagen ziemlich hässlichen Gesicht und dazu einer dicken, lupenartigen Brille auf der breiten, stumpfen Nase, so eine wie die von meiner Großmutter – und so weiter, alle anderen. Im Allgemeinen waren sie der Ansicht, der auch ich etwa war, nämlich dass die Angelegenheit im Ganzen betrachtet etwas ungewöhnlich sei, dass es sich da aber bestimmt um ein Missverständnis oder so etwas handeln müsse. «Rosi» ging dann auch, nachdem ihm einige der Jungen zugeredet hatten, zu dem Polizisten hinüber und wollte wissen, ob es denn nichts machen würde, wenn wir uns bei der Arbeit verspäten, und überhaupt, wann er die Absicht habe, uns weiterzulassen, zu unserem Tagewerk. Der Polizist war wegen der Frage kein bisschen böse, er hat aber geantwortet, das hänge nicht von ihm, von seiner Entscheidung ab. Es stellte sich heraus, dass er eigentlich auch nicht viel mehr wusste als wir: Er erwähnte einen «neuen Befehl», der dann an die Stelle des vorherigen treten werde, sodass sowohl er wie auch wir vorläufig warten müssten – so ungefähr hat er es erklärt. Das alles hörte sich, wenn auch nicht ganz verständlich, so doch – wie die Jungen und ich selbst auch fanden – im Wesentlichen akzeptabel an. Und überhaupt schuldeten wir dem Polizisten schließlich Gehorsam. Nun ja, und das fiel uns umso leichter, als wir im Besitz des Ausweises sowie des amtlichen Stempels der Rüstungsindustrie keinen Anlass dafür sahen, den Polizisten besonders ernst zu nehmen, versteht sich. Er dagegen hatte den Eindruck – so war seinen Worten zu entnehmen –, dass er es «mit vernünftigen Jungen» zu tun habe, auf deren «Disziplin», so fügte er hinzu, hoffentlich auch weiterhin zu zählen sei; soviel ich sehen konnte, gefielen wir ihm. Er selbst wirkte sympathisch: Es war ein ziemlich kleiner Polizist, weder alt noch jung, mit klaren, ganz hellen Augen im sonnengegerbten Gesicht. Aus einigen seiner Worte schloss ich, dass er vom Land stammen musste.
Es war sieben Uhr: Um diese Zeit beginnt in der Raffinerie die Arbeit. Die Autobusse brachten keine Jungen mehr, und da hat der Polizist gefragt, ob noch einer von uns fehle. «Rosi» hat die Zählung vorgenommen und dann dem Polizisten gemeldet: alle da. Darauf meinte der Polizist, wir sollten doch nicht hier am Straßenrand warten. Er schien besorgt, und ich hatte irgendwie das Gefühl, dass er eigentlich auf uns genauso wenig vorbereitet war wie wir auf ihn. Er hat dann auch gefragt: «Und was soll ich nun mit euch?» Aber da konnten wir ihm natürlich auch nicht helfen. Wir standen ganz locker um ihn herum, so ein bisschen lachend, genauso wie bei einem Ausflug um den Lehrer, und er stand mitten in unserer Gruppe, machte ein ratloses Gesicht und strich sich übers Kinn. Schließlich schlug er vor, wir sollten ins Zollhaus gehen.
Wir folgten ihm zu einem alleinstehenden, heruntergekommenen einstöckigen Gebäude, gleich da an der Straße: Das war das «Zollhaus» – wie auch eine verwitterte Aufschrift kenntlich machte. Der Polizist zog einen Schlüsselbund hervor und
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