Roman eines Schicksallosen (German Edition)
bloß nach gewissen untrüglichen Zeichen schließen: auf den Morgen nach dem Kaffee, auf die Schlafenszeit nach dem allabendlichen Abschied des Arztes. Schon am ersten Abend hatte ich mit ihm Bekanntschaft geschlossen. Ich war auf einen Mann aufmerksam geworden, der gerade bei unserer Box stehen geblieben war. Er konnte nicht besonders groß sein, denn sein Kopf befand sich etwa auf gleicher Höhe mit dem meinen. Sein Gesicht war nicht nur voll, sondern da und dort sogar schon zu füllig, und er hatte nicht nur einen hochgezwirbelten, fast grauen Schnurrbart, sondern auch – zu meinem größten Erstaunen, da ich so etwas in einem Konzentrationslager noch nie gesehen hatte – einen gleichfalls taubengrauen, höchst gepflegten kleinen Kinnbart, hübsch spitz zugeschnitten. Dazu trug er eine große, würdevolle Mütze, eine dunkle Tuchhose, aber auch – obwohl aus gutem Stoff – eine Sträflingsjacke mit einer Armbinde und dem roten Zeichen, darin ein F. Er nahm mich in Augenschein, so wie bei Neuankömmlingen üblich, und sagte auch etwas zu mir. Ich antwortete mit dem einzigen Satz, den ich auf Französisch kann: «Schö nö kompran pa, mössjöh.» – «Ui, uii», hat er darauf gesagt, mit einer vollen, freundlichen, ein bisschen heiseren Stimme, «bon, bon, mon fis», und damit ein Stück Zucker vor meiner Nase auf die Decke gelegt, richtigen Würfelzucker, so wie ich ihn von zu Hause kannte. Dann ist er an all den anderen Boxen entlanggegangen, auf beiden Seiten, allen drei Etagen, und für jeden Jungen hat es zu einem Würfelzucker aus seiner Tasche gereicht. Vor einige legte er das Stück einfach hin, bei anderen hingegen verweilte er länger, ja, einige konnten mit ihm sogar sprechen, und ganz besonders diesen tätschelte er das Gesicht, kitzelte sie am Hals, plauderte, zwitscherte gewissermaßen mit ihnen, so etwa, wie man zu Hause ein bisschen mit seinem Kanarienvogel herumtrillert, wenn gerade seine Stunde ist. Ich habe auch bemerkt, dass für einige seiner Lieblinge, vor allem für die, die seine Sprache verstanden, sich auch noch ein zweites Stückchen Zucker fand. Da erst begriff ich, was man mir zu Hause immer wieder eingetrichtert hatte, nämlich dass Bildung nützlich ist, vor allem, in der Tat, die Kenntnis von Fremdsprachen.
Wie gesagt, all das nahm ich auf, nahm es zur Kenntnis, doch immer mit dem Gefühl, um nicht zu sagen, schon fast mit der Einschränkung, dass ich währenddessen die ganze Zeit auf etwas wartete, und wenn ich auch nicht wusste, worauf eigentlich, so eben doch auf die Wende, darauf, dass das Geheimnis sich lüftete, auf das Erwachen sozusagen. Am nächsten Tag zum Beispiel, als er während seiner Arbeit einen Augenblick Zeit hatte, zeigte der Arzt mit dem Finger zu mir herüber. Man zog mich von meinem Platz und setzte mich vor ihn auf den Tisch. Er ließ ein paar freundliche Kehllaute erklingen, berührte mit seinem kalten Ohr, der stacheligen Spitze seines Schnurrbärtchens meinen Rücken und meine Brust, bedeutete mir, tief einzuatmen, zu husten. Dann legte er mich hin, ließ durch eine Art Gehilfen die Papierverbände entfernen und nahm sich meine Wunden vor. Er besah sie sich, zuerst nur aus einer gewissen Entfernung, dann betastete er sie vorsichtig, worauf sofort etwas von ihrer inneren Substanz zum Vorschein kam. Darauf machte er «hm, hm» und schüttelte besorgt den Kopf, als bedrückten ihn die Wunden ein wenig, als hätten sie ihm ein wenig die Laune verdorben, so schien mir. Dann hat er sie rasch wieder verbunden, so als wollte er sie aus seinen Augen verschwinden lassen, und ich hatte das Gefühl: Sie schienen nicht seinen Beifall zu finden, ihn nicht gerade zu befriedigen; er schien sich mit ihnen ganz und gar nicht abfinden zu können.
Aber auch sonst bin ich bei der Prüfung in dem einen oder anderen Punkt nicht gut weggekommen, wie ich nicht umhinkonnte festzustellen. Mit den Jungen neben mir zum Beispiel konnte ich mich in keiner Weise verständigen. Sie hingegen plauderten ungestört miteinander, über mich hinweg oder an mir vorbei, aber so, als sei ich bloß irgendein Hindernis, das ihnen einfach im Weg war. Zuvor noch hatten sie wissen wollen, was ich für einer sei. Ich sagte «Ungar» und hörte, wie sich die Neuigkeit in Windeseile links und rechts verbreitete: wengerski, wengrija , magyarski , matjar , ongroa und was sonst noch alles. Einer sagte auch: «Khenjir!», das heißt kenyér , Brot, und die Art, wie er und gleich der ganze Chor dazu
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