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Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Titel: Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zülfü Livaneli
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würde sonst ein noch größeres Unglück über ihn hereinbrechen, ging er dann einen nach dem anderen all die geliebten Menschen durch, die in Gräbern in aller Herren Länder ruhten.
    Das ging von seinem Bruder Arif bis hin zu Nâzım Hikmet, und danach waren die noch Lebenden an der Reihe, Yaşar Kemal, der Dichter Melih Cevdet Anday und viele andere. Es war, als redete Abidin gegen den Tod an wie ein Alchimist, der ihm mit Erinnerungen beikommen will.
    Ich ging fast jeden Nachmittag zu Abidin. Wenn Güzin von ihrer Arbeit beim Rundfunk nach Hause kam, setzte Abidin in der Küche seinen rauchigen Lapsang-Souchong-Tee auf, und manchmal stiegen wir ins Obergeschoss hinauf, wo Abidins Bilder umgekehrt an der Wand lehnten. Er drehte eines nach dem anderen um, und bei Bildern, mit denen er zufrieden war, quittierte er meine Bewunderungsrufe mit einem lachenden »Na ja, gar nicht so schlecht!«
    Für die gesamte türkische Künstlergemeinde in Paris war Abidins Haus Heimstätte und Schule zugleich. Abidin hatte ein außergewöhnliches Gespür für die Förderung junger Künstler.
    In jenen Jahren begannen leider schon seine Gesundheitsprobleme. Er hatte nur eine Niere, und die Schmerzen trieben ihm oft Tränen in die Augen. Da Güzin von seinem wahren Zustand nichts erfahren sollte, versteckte er die entsprechenden Befunde bei mir zu Hause.
    Als er 1993 starb und ich zuerst in Paris und dann in Istanbul seinen Totenfeiern beiwohnte, musste ich an einen Ausspruch von ihm zurückdenken:
    »Wenn eine Fußballmannschaft zum Angriff übergeht, beflügeln die Spieler sich gegenseitig, und gemeinsam stürmen sie auf das gegnerische Tor. Bei Künstlern ist es ähnlich; manchmal schlagen so viele Triebe auf einmal aus. Uns wurde das aber nicht gegönnt. Sie haben uns auseinandergetrieben, Nâzım in die eine Richtung und uns in die andere. Manche von uns sind im Gefängnis verschwunden, andere im Exil. Dabei war es ein so herrliches Keimen und Knospen.«
    Er rief die türkischen Künstler immer wieder dazu auf, nicht in Provinzialität zu verharren, sondern sich der Welt zuzuwenden.
    Nicht zuletzt unter seinem Einfluss beschloss ich damals in Paris, eine neue Platte zu komponieren, die den Geist in Abidins Haus in Montparnasse und das Pariser Lebensgefühl widerspiegeln sollte, und ich hatte auch schon einen Namen dafür: Ada (Insel).

 
    I   n unserer kleinen Wohnung in Montparnasse verfügte ich über keinen eigenen Arbeitsraum und komponierte im Wohnzimmer. Überhaupt habe ich abgesehen von den letzten Jahren immer auf beschränktem Raum gewohnt und bei der Arbeit an meinen Platten, Drehbüchern, Romanen und Artikeln meist am Esstisch gesessen.
    Die Pariser Wohnung ging auf den Bahnhof Montparnasse hinaus, so dass ich beim Komponieren regelmäßig vom Kreischen bremsender Züge unterbrochen wurde.
    Die Stücke auf dem Album Ada sollten eher chansonartigen Charakter haben, und so verwendete ich weder eine Saz noch irgendwelche Volkslieder. Beim Komponieren benützte ich fast immer eine Gitarre. Erst nahm ich mir zwei Gedichte von Orhan Veli vor, danach Paul Éluards »Liberté«, von dem Orhan Veli und Melih Cevdet Anday eine wunderschöne Übersetzung angefertigt hatten, die sich womöglich noch schöner las als das Original.
    Überhaupt hatten Leute wie Sabahattin Eyüboğlu, Melih Cevdet Anday, Orhan Veli, Orhan Burian, Sabri Esat Siyavuşgil mit ihren herrlichen Klassikerübertragungen die türkische Sprache bereichert und wären in einem Land, das kulturelle Leistungen anerkennt, hoch geachtet worden. In der Türkei dagegen kann man fragen, wen man will, niemand weiß mehr, von wem jene Gedichte übersetzt wurden.
    Eine Melodie, die ich ursprünglich für Bertolt Brechts »Gedanken über die Dauer des Exils« komponiert hatte, verwendete ich nun für ein Gedicht von mir, bei dem Louis Aragons Vers »Es gibt keine glückliche Liebe« Pate stand. Danach vertonte ich das von Attila Tokatlı wundervoll ins Türkische übersetzte Gedicht »Der Mensch allein«.
    Und noch jemand durfte nicht fehlen: Sait Faik nämlich, bei dem auch Prosatexte poetisch klingen. Ich formte einzelne Sätze aus Erzählungen Sait Faiks zu einem Liedtext zusammen und fügte meinen Lieblingssatz aus Dostojewskis Der Idiot hinzu: »Die Welt wird durch die Schönheit gerettet.«
    Im Allgemeinen gehe ich beim Komponieren von einem Text aus, dessen Rhythmus mir bei der Musik den Weg weist. Ein Gedicht zu vertonen, das mir sehr zusagt, fällt mir nicht

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