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Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Titel: Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zülfü Livaneli
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Das ist eine Tragödie, weil wir dadurch den Glauben an die Logik verlieren. Man muss unbedingt die Freiheit besitzen, der Wahrheit auf den Grund zu gehen, so wie das schon das Ideal der Renaissance war.«
    Peter Ustinov pflichtete ihm bei und erklärte, es nehme ja schon alles mit falscher Schulerziehung seinen Anfang.
    »Um das in der Schule Gelernte zu vergessen, habe ich 15 Jahre gebraucht.«

 
    A   m nächsten Tag ging es zurück nach Frunze, wo wir von da an unsere Sitzungen abhielten. Wir logierten in kleinen Villen mitten in einem riesigen, von einer Mauer umgebenen Waldgebiet. Wenn sich nach dem gemeinsamen Abendessen die meisten auf ihre Zimmer zurückzogen, unternahmen Yaşar Kemal und ich regelmäßig einen Spaziergang durch den verschneiten Wald und redeten, erzählten uns Witze und sangen manchmal auch lauthals. Der Mond beschien die Gipfel des Alatav-Gebirges und die labyrinthartigen Pfade, die sich durch den Wald zogen. Man kam sich vor wie am Ende der Welt.
    Als wir eines Tages wieder lange gegangen waren, merkten wir irgendwann, dass es schon Mitternacht war und wir uns verlaufen hatten. Wir probierten einen Weg nach dem anderen und kamen jedes Mal wieder an die gleiche Stelle zurück. Währenddessen fror uns immer mehr, und wir wussten wirklich nicht mehr, was wir tun sollten. Da sahen wir in einiger Entfernung einen Schatten, der einem Soldaten mit geschultertem Gewehr ähnlich sah. Wir gingen darauf zu, und je näher wir kamen, um so mehr hatten wir das Gefühl, es sei dort nach dem Zweiten Weltkrieg ein Soldat auf Wache vergessen worden und stehe seither unbeweglich da. Yaşar Kemal sagte:
    »Lass mich reden, ich war schon oft in der Sowjetunion, ich weiß schon, was ich sagen muss.«
    Als wir vor dem Soldaten standen, rief Yaşar Kemal: »Delegatsie!« Ich begriff: Das war vermutlich das Zauberwort, das einen als Mitglied einer ausländischen Delegation und damit als Gast des Staates zu erkennen gab. Unseren Soldaten allerdings schien das nicht zu rühren. Er gab keinen Ton von sich und stand wie festgefroren da. Yaşar Kemal wiederholte sein »Delegatsie« noch mehrfach, aber ohne jeden Erfolg.
    Da mischte ich mich ein und versuchte dem Mann auf Englisch, auf Französisch, mit meinen paar Brocken Deutsch und sogar auf Schwedisch eine Reaktion zu entlocken, aber es war einfach nichts zu wollen. Entnervt rief Yaşar Kemal schließlich: »Was für eine Sprache versteht der Mistkerl denn?«
    Da lief ein breites Lächeln über das Gesicht des Soldaten, und er sagte: »Türkisch!«
    Das Wort »Mistkerl« hatte uns vor dem Erfrieren gerettet. Der Soldat stammte aus Aserbaidschan, dessen Sprache fast identisch mit dem Türkischen ist. Er führte uns noch weiter in den Wald hinein, wo uns dann die eigentliche Überraschung erwartete. Da hatten wir uns am Ende der Welt gewähnt, und in Wirklichkeit waren wir Abend für Abend an einem Militärlager vorbeispaziert, in dem schwerbewaffnete Soldaten Wache hielten. Beschämt dachten wir daran, welche politischen Witze wir über die Sowjetunion erzählt und wie laut wir gesungen hatten.
    Die Sitzungen selbst verliefen in aufgeräumter Stimmung, und einen erheblichen Anteil daran hatte Peter Ustinov mit seinem unverwüstlichen Humor. Der sprachbegabte Ustinov verfügte auch über einen Minimalwortschatz an Türkisch, den er unglaublich effizient einzusetzen wusste. Beim Abschiedsabend, bei dem jedes der Mitglieder etwas zur Unterhaltung beitragen sollte, wurde Ustinov, der stets jedermann imitierte, seinerseits von Sir Alexander King nachgemacht. Arthur Miller erzählte Witze, und James und David Baldwin führten einen unvergesslichen Sketch auf. Für das Finale waren Yaşar Kemal und ich zuständig. Wir trieben in letzter Minute eine Gitarre auf und sangen ein türkisches Lied. Außerdem hatte ich mir von unseren Dolmetscherinnen Nadja und Vera den russischen Text des Liedes »Moskauer Nächte« phonetisch aufschreiben lassen und sang ihn nun, so gut ich konnte, wobei ich am Ende statt »Moskau« den »Issyk-See« einsetzte.
    Es gibt im Leben Ereignisse, die einem zwar schon bedeutsam erscheinen mögen, während man sie erlebt, die aber danach in der Erinnerung noch einmal eine Eigendynamik entfalten. So erging es mir mit jener Veranstaltung damals. Einer alten türkischen Legende zufolge soll einst eine Hirschkuh die Türken zum Issyk-See geführt und ihnen dort aufgetragen haben, sich zu vermehren und in die Welt hinauszugehen. 1986 saßen Yaşar Kemal

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