Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
einzutreten und dabei den Damen, also Inge Morath und Heidi Toffler, den Vortritt zu lassen.
Gorbatschow stand am Eingang und schüttelte jedem von uns die Hand. Die anwesenden Mitarbeiter der Nachrichtenagentur Tass und des sowjetischen Fernsehens zogen sich nach der Begrüßung zurück.
Gorbatschow setzte sich ans Ende eines langen Tisches und plazierte zu seiner Linken Tschingis Aitmatow und zu seiner Rechten Yaşar Kemal. Ich kam zwischen Arthur Miller und James Baldwin zu sitzen.
Gleich mit seinen ersten Worten schuf Gorbatschow eine herzliche Atmosphäre. Er erklärte, er kenne Tschingis Aitmatow gut und habe jedes seiner Bücher gelesen, und auch Stücke Arthur Millers habe er gesehen. »Bei uns werden amerikanische Theaterstücke und Filme gezeigt«, sagte er. Beim Gipfeltreffen in Reykjavik hatte er gegenüber Ronald Reagan bereits moniert, dass das umgekehrt in den USA nicht der Fall sei.
»Ich weiß, warum Sie in die Sowjetunion gekommen sind, nämlich auf eine Einladung hin. Ich habe auch gelesen, was Sie gestern gegenüber der Prawda geäußert haben, aber sehr gesprächig waren Sie nicht gerade. Nun ja, das Forum wird Sie angestrengt haben. Heute haben wir aber Gelegenheit, uns zu unterhalten, und ich möchte, dass Sie zuerst das Wort ergreifen.«
Tschingis Aitmatow erwiderte: »Zunächst möchte ich mich im Namen des Issyk-See-Forums bei Ihnen bedanken, dass Sie sich trotz Ihres gedrängten Terminplans Zeit für uns genommen haben. In der Abgeschiedenheit Kirgisiens hatte unser Treffen einen recht privaten Charakter, was auch gut so ist, denn wir sind uns dadurch sehr nahe gekommen.«
»Es tut mir leid, dass ich nicht dabei sein konnte«, warf Gorbatschow ein.
»Sie sind uns jederzeit willkommen. Bei unseren Sitzungen herrschte eine ganz besondere Atmosphäre, und das hat uns zu einem Meinungsaustausch befähigt, wie er bei offiziellen Anlässen, bei denen einige von uns sich bereits begegnet waren, noch nie zustande gekommen war.«
Danach erläuterte Aitmatow die Anliegen des Forums. Unser Treffen sollte den Grundstein für einen regelmäßigen Austausch über politische und soziale Themen bilden. Die Teilnehmer sollten in ihren Herkunftsländern Pressemitteilungen herausgeben, auch Nachfolgeforen waren geplant. Hauptziel sei die Verhinderung von Kriegen, denn dazu könnten Kunst, Literatur und moderne Philosophie ihren Beitrag leisten.
»Hier sind bekannte Intellektuelle vertreten, denen in ihren Ländern Gehör geschenkt wird«, sagte Aitmatow und stellte uns dann einzeln vor. Danach erklärte Gorbatschow: »Ich möchte Sie jetzt nicht als große Menschen bezeichnen, denn das hören Sie wohl oft genug und lassen sich nicht davon beeindrucken. Lieber nenne ich Sie angenehme und herzliche Menschen. Nun, ich würde auch gerne Kandidat für Ihr Forum sein. Es liegt mir am Herzen, neue Denkformen zu entwickeln, denn daran mangelt es meiner Ansicht nach in unserer Zivilisation am allermeisten.«
Als wir aufgefordert wurden, uns selbst zu Wort zu melden, berichtete Heidi Toffler von einem der Pferdewettkämpfe am Issyk-See, bei dem ein junger Mann einem Mädchen hinterhergaloppierte. Falls er sie bis zu einem bestimmten Punkt nicht einholte, wurde er von dem Mädchen danach ausgepeitscht. Das erschien Heidi doch eine recht merkwürdige Beziehung zwischen Mann und Frau zu symbolisieren.
»Vielleicht steckt hinter dem Spiel die Philosophie«, entgegnete Gorbatschow, »dass vom Leben ausgepeitscht wird, wer sich keine Kontrolle zu verschaffen weiß.«
Das war beinahe eine Prophezeiung, denn fünf Jahre später wurde Gorbatschow gestürzt, weil er über die verschiedenen Kräfte in der Sowjetunion keine Kontrolle mehr hatte.
Zwischendurch wurde Kuchen und Tee serviert, aber kein Alkohol, denn Gorbatschow war Abstinenzler und hatte Alkohol von sämtlichen Staatsempfängen verbannt. Während seiner Amtszeit gelang es ihm, den landesweiten Alkoholkonsum um 38 Prozent zu drosseln.
Das Treffen dauerte etwa zweieinhalb Stunden, so dass jeder Gelegenheit bekam, sich ausführlich zu äußern. Ich sagte damals: »Sehr geehrter Herr Generalsekretär, ich möchte Ihnen für dieses Treffen danken, dem ich große Bedeutung beimesse. Von früheren Herrschern hieß es manchmal lobend, sie hätten Dichter und Weise um sich versammelt, doch scheint so ein Verhalten wirklich passé zu sein, denn vor allem im 20. Jahrhundert haben sich die Beziehungen zwischen den Regierungen und den Intellektuellen auf geradezu
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