Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
tragische Weise verschlechtert. In zahlreichen Ländern sind Intellektuelle, Künstler und Wissenschaftler vom Staat unterdrückt worden, und das geschieht auch heute noch.
Den Hauptgrund für den Niedergang dieser Beziehungen sehe ich darin, dass die Regierungen heute von den Intellektuellen kurzfristige Lösungen erwarten, während jene darum wissen, dass die Kunst erst auf Dauer ihre Wirkung entfaltet, so dass sie vor allem der Freiheit bedürfen, um der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Um der Zukunft willen muss überall daran gearbeitet werden, dass Regierungen und Intellektuelle wieder zueinander finden. Möge dieser Empfang bei Ihnen ein Beitrag dazu sein!«
Gorbatschow charakterisierte die Beziehungen zwischen Regierungen und Intellektuellen folgendermaßen: »Ein Künstler weiß selbst am besten, mit welchen Methoden er vorgeht, und ich bin der Meinung, dass er darin frei zu sein hat. Es ist seine Arbeit, sein Beruf. In einen Elfenbeinturm sollten sich Künstler allerdings nicht zurückziehen, sondern vielmehr die Nöte und Sorgen ihres Volkes zum Ausdruck bringen. Intellektuelle sollen an die Menschen denken. Wenn Politik und Kultur Hand in Hand gehen, können sie beispielhaft sein und voneinander profitieren, denn es gibt ja in der Politik genauso wie in der Kunst Richtiges und Falsches. Wenn allerdings die Künstler sich von den Lebenswirklichkeiten entfernen und ein abgehobenes Dasein führen, wird es problematisch.«
Und zum Abschied sagte Gorbatschow: »Ich werde Sie nicht vergessen und auch das Vertrauen nicht, das Sie in den Menschen und seine Beherztheit setzen. Hier sind Persönlichkeiten aus verschiedenen Ländern zusammenkommen, um über die heutige Welt und ihre Zukunft nachzudenken. Wir möchten die Zusammenhänge zwischen den Dingen sehen und doch auch ihre Widersprüche nicht vergessen. Ich lese viel Lenin, der 1916 beim Erörtern der Kriegslage schrieb: ›Es ist Aufgabe der Proletarier, alle menschlichen Werte zu berücksichtigen.‹ Auch in der nichtsozialistischen Welt soll verstanden werden, dass wir menschliche Werte über die Ideologie stellen, der wir uns verbunden fühlen.«
Aus heutiger Sicht wirken diese Worte nicht außergewöhnlich, aber in der noch aus zwei Blöcken bestehenden Welt von 1986 war es erstaunlich, vom neuen Kreml-Herren solche Äußerungen zu hören, die man als erste Anzeichen für den später beginnenden spektakulären Umbruch werten kann. Ich war damals überzeugt davon, dass sich eine demokratische Öffnung der Sowjetunion im Land selbst und auch weltweit positiv auswirken würde, doch als ich 1991 nach dem missglückten Putschversuch wieder nach Moskau kam, musste ich erkennen, dass mein Optimismus verfrüht gewesen war.
Als wir den Raum verließen, schüttelte Gorbatschow jedem von uns die Hand. Als ich an der Reihe war, sagte er zu mir: »Mir gefällt Ihre Musik, und ich höre sie oft.« Als mir der Dolmetscher das übersetzte, war ich doch sehr verwundert. »Woher kennen Sie denn meine Musik?«, fragte ich. Und Gorbatschow erwiderte verschmitzt: »Durch meine Tochter.«
Ich weiß bis heute nicht, ob der Nâzım-Verehrer Gorbatschow über seine Tochter wirklich an meine Nâzım-Vertonungen gelangt war oder ihm lediglich die sowjetische Botschaft in Ankara eine Vorlage für Liebenswürdigkeiten geliefert hatte. Zu leugnen ist jedenfalls nicht, dass wir beim Verlassen des Kremls allesamt sehr beeindruckt waren.
I ch flog von Moskau nach Berlin, und da ich im vorderen Bereich der Aeroflot-Maschine ganz alleine dasaß, wurde ich zu sehr früher Stunde von einer stattlichen Hostess dazu animiert, die Berge von Würstchen zu essen, die sie vor mir aufhäufte, und dazu Wodka zu trinken.
Ich war noch ganz aufgewühlt von den Eindrücken der vergangenen Woche, doch wenn ich gewusst hätte, was sich mittlerweile in Moskau tat, hätte ich den dargebotenen Wodka vermutlich ohne Zögern hinuntergekippt. Ich brauchte allerdings noch Jahre, um es zu begreifen. Als ich 2002 den Entschluss fasste, über meine Beziehungen zu Gorbatschow und unsere Gespräche ein Buch zu veröffentlichen, stieß ich im Internet auf höchst Erstaunliches: Anscheinend hatten wir damals, ohne es zu merken, mit unserem Forum einen Anstoß zu Glasnost und Perestroika gegeben. In einem Interview mit Brian Lamb vom amerikanischen Fernsehsender C-Span ging Gorbatschow 1996 darauf ein. Auf Lambs Frage: »Sie haben angedeutet, die Perestroika habe vermutlich mit einem internationalen
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