Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
allerdings umbenannten) breiten Gorki-Straße, die riesigen Statuen von Puschkin, Tolstoi, Dostojewski, Gogol, Majakowski und Tschechow sowie die nach ihnen benannten Straßen und Plätze zeugten davon, wie wichtig Kultur in Russland genommen wurde. Vor Theatern wurde Schlange gestanden, und Bücher und Platten waren immer sogleich ausverkauft. Das Tolstoi-, das Dostojewski- und das Tschechow-Haus wurden Tag für Tag von Tausenden von Menschen besucht. Es war unmöglich, von dieser Kulturbeflissenheit nicht beeindruckt zu sein.
An einem verregneten Nachmittag besuchten wir auf dem Ehrenfriedhof Nowodewitschi die Gräber zahlreicher Schriftsteller und Dichter. Für mich war dabei der Höhepunkt, vor dem Grab und dem Denkmal von Nâzım Hikmet zu stehen, den wir Türken in Russland hatten vereinsamen lassen. Obwohl es sein Traum gewesen war, in Anatolien unter einer Platane begraben zu sein, ruhte er nun unter feuchtem Laub in einem Friedhof hoch im Norden. Mir zog sich das Herz zusammen, als ich das Grab des Mannes wieder verließ, der in meinem Leben und meiner Kunst eine so große Rolle gespielt hatte.
Jahre später schlug ich daher in Moskau ansässigen türkischen Geschäftsleuten Folgendes vor: Nachdem wir Nâzım schon nicht unter seine anatolische Platane bringen konnten, war es da nicht zumindest möglich, aus der Türkei eine solche herbeizuschaffen und sie an Nâzıms Grab einzupflanzen? Die Idee fand Zuspruch und wurde auch tatsächlich kurz darauf verwirklicht. Bei der Feier auf dem Friedhof fiel mir Nâzıms letzte Ehefrau Vera weinend um den Hals, und ich musste an Münevver Andaç denken, seine erste Frau, mit der wir in Paris freundschaftlichen Umgang gepflegt hatten. Nun kannte ich also beide Ehefrauen Nâzıms.
Allmählich trafen auch die anderen Künstler ein, die Aitmatow nach Moskau geladen hatte. Im Hotelrestaurant lernten wir Alvin Toffler und Arthur Miller kennen, bald darauf kamen James Baldwin und sein Bruder, der Schauspieler David Baldwin. Als die Teilnehmer an dem geplanten Treffen vollzählig versammelt waren, wurden wir am 12. Oktober spätabends zum Flughafen gebracht und flogen ins vier Stunden entfernte kirgisische Bischkek, das damals noch Frunze hieß.
Während des Flugs unterhielt ich mich mit Arthur Miller und seiner Frau, der Fotografin Inge Morath. Miller kam gerade aus London, wo er der Premiere eines seiner Stücke beigewohnt hatte. Die BBC hatte zudem gerade ein verschollen geglaubtes Stück von ihm aufgetan und plante, es als Hörspiel aufzuführen. Lachend sagte Miller: »Ich habe gelesen, was ich da vor 30 Jahren als junger Mensch geschrieben hatte, und was soll ich sagen, es war gar nicht so schlecht!«
W egen der drei Stunden Zeitunterschied kamen wir in Frunze um sieben Uhr morgens an. Wir wurden von Tschingis Aitmatow empfangen, der mit seiner betont aufrechten Haltung und den windzerzausten grauen Haaren weniger einem Schriftsteller glich als vielmehr einem der Weisen aus den kirgisischen Bergen, von denen er in seinen Romanen erzählte. Der Autor von Dshamilja und Abschied aus Gülsary war in seiner Heimat ein Halbgott. Wohl kaum ein Künstler dürfte schon zu Lebzeiten so viel Liebe und Achtung erfahren haben.
Nach Aitmatows Begrüßungsrede wurden wir auf Wolga-Limousinen verteilt und von Frunze zum Ala Archa Nationalpark gefahren. Nach dem Mittagessen in einem von Apfelgärten umgebenen Gästehaus am Fuße der Alatav-Berge zogen sich die meisten in ihre Zimmer zurück. Yaşar Kemal und ich gingen im Garten spazieren.
Wenn man als Türke zum ersten Mal zentralasiatischen Boden betritt, dann merkt man, dass unsere ständige Identitätsfrage – nämlich ob wir nun Europäer oder Asiaten sind oder eher doch zum Nahen Osten gehören und ob wir uns als Nachfolger der Byzantiner auffassen sollen oder als Teil der islamischen Welt – hier noch einmal eine ganz neue Dimension gewinnt.
Es war schon eine völlig andere Welt als Moskau. In den Apfelgärten arbeiteten die lebensfrohen, aufrichtigen und traditionsbewussten Menschen, die ich aus Aitmatows Romanen kannte. Bei unserem Anblick lächelten und grüßten sie. Sie hatten nichts gemein mit den rauen Gesellen aus blutrünstigen Märchen, mit denen nationalistische Kreise in der Türkei die Jugend oft auf unsere vermeintliche zentralasiatische Urheimat einschwören.
Am 13. Oktober fand unsere erste Sitzung statt. Wir saßen in einem weiten Raum im Kreis, und Tschingis Aitmatow stellte uns vor.
»Ich
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