Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
denke, bevor Sie zu der weiten Reise aufgebrochen sind, haben Sie einen Blick auf die Landkarte geworfen. Die aber verrät Ihnen nicht alles. Wir sind hier im Herzen Zentralasiens, in der Nähe der Grenze zwischen der Sowjetunion und China. Dieses von Samarkand bis Alma Ata reichende Gebiet ist unter dem Namen Turkestan bekannt.«
Für nicht wenige der anwesenden Intellektuellen aus aller Welt war dies eine Überraschung, denn mit der Türkei brachte man damals die zentralasiatischen Sowjetrepubliken noch nicht so leicht in Verbindung.
Aitmatow fuhr fort: »Die härtesten Auseinandersetzungen zwischen den Turkvölkern und dem Iran fanden hier in dieser Gegend statt. Aber noch eine andere Besonderheit möchte ich erwähnen. Es gibt hier eine lange Tradition des Zusammenlebens von Nomaden und sesshaften Völkern. Die von China bis Byzanz reichende Seidenstraße hat hier entlanggeführt und zwischen Europa und Asien vermittelt. Unsere Vorväter sind davon stark beeinflusst worden.«
Am Ende seiner Rede erzählte Tschingis Aitmatow von der Tradition des ş erne , mit der er aufgewachsen sei: »Früher kamen Menschen, die sich von ihren Gefühlen und ihren Gedanken her nahestanden, zum Teetrinken zusammen und führten dabei sehr lange, weise Gespräche über die alten Zeiten, über die Geschäfte ihrer Anführer, über den Padischah, die Zukunft der Welt, die heiligen Bücher, die Worte des Propheten, den Schnee auf den Bergen. Sie blickten auf die verschneiten Gipfel und mutmaßten, wie viel Wasser es wohl im Frühling geben würde. Es waren also Gespräche über das Leben an sich und darüber, wie der Mensch es zu führen habe. Mit viel Tee und einem Festessen ging der ş erne zu Ende. Fühlen Sie sich bitte, als seien Sie beim ş erne der Familie Aitmatow zu Gast. Nur dass wir nicht aus dem gleichen Dorf oder der gleichen Hochebene stammen, sondern aus ganz verschiedenen Ländern und Kontinenten. Willkommen bei unserem ş erne , willkommen im Tal von Ala Archa!«
A m nächsten Tag lud man uns in ein Nomadenlager, in dem eine traditionelle kirgisische Hochzeit gefeiert wurde. Durch die Lieder und Tänze fühlten wir Türken uns ungemein an eine anatolische erinnert. Danach stand das kirgisische Heldenepos Manas auf dem Programm. Ein sogenannter Manastschi saß im Schneidersitz auf dem Boden und rezitierte in melodischem Redegesang. Immer wieder verstand ich einzelne Verse daraus, da das Kirgisische mit dem Türkischen weitläufig verwandt ist. Aber auch die westlichen Gäste, die nicht ein Wort mitbekamen, waren sichtlich beeindruckt von dem rhythmischen Wechsel zwischen flehendem und schwungvollem Vortrag und von der Mimik des Manastschi. Man sagte uns hinterher, der Manas bestehe aus einer halben Million Verse und es seien noch immer nicht alle zusammengetragen.
Mein besonderes Interesse galt den Musikinstrumenten. Die Frauen spielten vor allem auf Maultrommeln, und bei einem kleinen Jungen sah ich ein irdenes Blasinstrument mit einem weichen, lyrischen Klang. Ich versuchte mich daran, brauchte aber lange, um überhaupt einen einzigen Ton herauszubringen.
Am Nachmittag flogen wir mit zwei kleinen Propellermaschinen über das verschneite Tianshan-Gebirge zum endlos wirkenden Issyk-See, an dessen Ufer wir in Gästehäusern untergebracht wurden. Doch unser Besuchsprogramm war so dicht gedrängt, dass wir sofort wieder abgeholt und zu den traditionellen Reiterspielen gebracht wurden.
Vor dem Rennen wurden uns die Pferde präsentiert, und als ich danach sah, wie meisterhaft sie von jungen Burschen und auch Mädchen geritten wurden, war mir klar, wo die türkische Pferdeliebe ihre Wurzeln hatte. Es wurden aus vollem Ritt Lanzen auf Zielscheiben geworfen, Jungen und Mädchen ritten um die Wette, und bei einem Spiel ging es darum, jemandem ein Schaffell zu entreißen.
Schließlich traten Beizjäger mit Falken und Adlern an, worauf Yaşar Kemal sich noch mehr in die Welt seiner Romane versetzt fühlte und sich zu den Männern gesellte. Claude Simon dagegen, der im Vorjahr den Nobelpreis bekommen hatte, fotografierte zwar viel und zeigte sich von den Pferden beeindruckt, fand aber die Beizjagd zu wild.
Bei unserer ersten Arbeitssitzung am Abend sagte Arthur Miller: »Wie haben den Vietnamkrieg geleugnet. So viele Menschen sind umgekommen, aber wir haben immer noch behauptet, nie offiziell den Krieg erklärt zu haben. Es bringt nichts, die Wahrheit zu leugnen, und doch wird das heute an höchster Stelle getan.
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