Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
löste damit Bestürzung aus. Einer der Männer, der achtzigjährige Cemal Biçer, mit dem ich mich danach anfreunden sollte, bat mich inständig, nicht aufzugeben.
»Wenn es sein muss, tragen wir die Lastwagen hier herauf. Aber lasst uns bitte nicht im Stich!«
Das ging mir nahe. Durch diesen hochaufgeschossenen alevitischen Weisen wurde mir deutlicher, was in der alten anatolischen Zivilisation Gastfreundschaft und Nächstenliebe bedeuteten. Cemals gleichaltriger Freund Mehmet spielte abends immer auf einer kleinen dreisaitigen Saz und sang mit herzzerreißender Stimme Totenlieder auf die schiitischen Heiligen Ali, Hasan und Hüseyin.
Als wir an jenem ersten Abend zu essen bekamen, wurde der niedrige Tisch, um den wir im Schneidersitz saßen, zuerst mit serviettengroßen Fladenbroten bedeckt, auf die dann der große Topf mit dem Essen gestellt wurde. Man löffelte aus dem Topf heraus und riss sich dazu von dem Fladenbrot, auf dem man auch die Ellbogen abstützte, immer wieder Stücke ab.
Dann wollten die Leute aus dem Dorf uns auch noch an einer Diskussion teilhaben lassen, die ihnen die langen Winterabende verkürzte, und vor allem sollte ich die Sache Jürgen übersetzen, dessen Meinung sie einholen wollten. Als Jürgen erfuhr, worum es ging, war er völlig verblüfft. Im Dorf diskutierte man nämlich allabendlich darüber, ob Hitler tatsächlich tot war. Während die einen sagten, er habe sich in seinem Bunker umgebracht, behaupteten die anderen steif und fest, dass er immer noch irgendwo lebe. Und von Jürgen wollten sie nun die Wahrheit erfahren. Als ich ihm das übersetzte, erntete ich einen fassungslosen Blick. Da saßen diese Leute in der verschneiten Abgeschiedenheit der Keşiş-Berge am bullernden Ofen und stritten sich über Hitler. Jürgen wurde rot und brachte lediglich heraus, dass er dazu keine Meinung habe.
Wir schliefen in der Nacht in dem gleichen Raum. Als ich nachts auf die draußen gelegene Toilette musste, schien der unten im Tal tobende Schneesturm das Ende der Welt anzukündigen. Im Dorf liefen kalbsgroße Hunde herum, und aus der Ferne hörte man Wolfsgeheul.
Am nächsten Tag kehrten wir mühsam nach Erzincan ins Urartu-Hotel zurück. Jürgen und ich machten uns dann daran, den Ablauf der Dreharbeiten und die einzelnen Kamerafahrten genau zu planen. Es gab aber eine grundlegende Meinungsverschiedenheit: Jürgen wollte im Dorf selbst filmen, denn der matschige Brunnen und die wie in einem Slumviertel eng aneinandergedrängten und zum Teil mit Plastikplanen, Blechplatten und Plexiglas geflickschusterten Häuser kamen ihm als Westeuropäer schön exotisch vor, während ich außerhalb des Ortes um eine Art Platz herum ein paar halbverfallene Häuser gefunden hatte, die zusammen mit kahlen Pappeln sehr dramatisch wirkten. Mir ging es nicht um das Durcheinander des Dorfes, sondern um ein Theaterdekor mit jungfräulichem Schnee. Nach langer Diskussion gab Jürgen nach, nicht aus Überzeugung, sondern weil nun mal ich der Regisseur war, aber im Nachhinein sollte er mir Recht geben.
E ines Morgens wurde ich durch Hupen geweckt. Ich ahnte schon etwas und lief freudig erregt zum Fenster. Sie waren da! Vor dem Brunnen mitten im Dorf standen drei Lastwagen mit deutschen Kennzeichen.
Ohne Zeit zu verlieren, begannen die Deutschen mit dem Verlegen der Generatorkabel. Vom Dorf bis zu dem Ort, den ich für die Dreharbeiten vorgesehen hatte, war es in etwa ein Kilometer, und es führte dorthin keine Straße. Die Leute arbeiteten unglaublich flink, und noch bevor es Abend wurde, hatten wir überall Strom. Zum ersten Mal in seiner Geschichte wurde das Dorf elektrisch beleuchtet und wirkte gleich wie in einem Märchen. Zusammen mit den Bewohnern standen wir staunend da. Ein Haus in der Dorfmitte wurde zum Lokal umfunktioniert, und wer gerade nichts zu tun hatte, konnte dort Tee trinken und Karten spielen. In dieser abgeschnittenen, verschneiten Welt gab es drei Gruppen: die Dorfbewohner, die Deutschen und die aus Ankara und Istanbul eingetroffenen Schauspieler und Techniker. Unter dem Eindruck der rauen Natur rings umher waren unsere Beziehungen zueinander mal angespannt und dann wieder herzlich.
Wir drehten zunächst die Szene, in der die von Rutkay Aziz gespielte Hauptfigur Taşbaş in der Abenddämmerung über den Friedhof geht, und zum ersten Mal im Leben gab ich das Kommando: »Kamera ab!«
Nach diesem Versuch mit einer einzigen Einstellung machten wir uns am folgenden Tag daran, eine
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